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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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für andere, obwohl sie selbst Hilfe gebrauchen konnte.
    Das Ehepaar hatte beschlossen, ans Meer zu ziehen, weil das Leben in
Ostia ruhiger und billiger war. Jeden Tag pendelte es zur Arbeit nach Rom, aber
der Aufwand war überschaubar.
    Als Marcus sich Zutritt zu ihrem Haus verschaffte, fühlte er sich
erstmals wie ein Eindringling. Tür und Fenster waren vergittert, aber er konnte
das Hauptschloss problemlos knacken und die Tür anschließend hinter sich
zuziehen. Er stand in einer Wohnküche, Weiß und Blau waren die vorherrschenden
Farben. Es gab nur wenige Möbel, und alles war im Marinestil gehalten. Der
Esstisch bestand aus Schiffsplanken, darüber hing eine Bootslampe. Die Wand
schmückte ein altes Ruderblatt, in das eine Uhr eingelassen war, und auf einem
Sims lag eine Muschelsammlung. Der Sand drang durch sämtliche Ritzen und
knirschte unter den Schuhsohlen. Marcus suchte nach Hinweisen, die der
Pönitenziar hinterlassen hatte. Als Erstes ging er zum Kühlschrank, an dem er
einen Zettel entdeckt hatte. Er klemmte unter einem Magneten in Gestalt eines
Krebses und war eine Nachricht Ettore Roccas an seine Frau.
    Wir sehen uns in zehn Tagen. Ich liebe dich.
    Der Mann war also beruflich unterwegs. Allerdings konnte das auch
eine Notlüge sein. Vielleicht bereitete er sich gerade darauf vor, Goyash zu
töten. Um seine Frau zu schützen, hielt er sie aus der Sache raus. Er gönnte
sich eine Vorbereitungszeit von einer Woche, in einem Motel außerhalb der
Stadt. Aber Marcus durfte sich nicht auf bloße Vermutungen verlassen, er
brauchte Beweise. Also fuhr er damit fort, sich im Wohnraum umzusehen. Dabei
fiel ihm etwas auf.
    Die Gegenstände strahlten keinerlei Schmerz aus.
    Vielleicht war es naiv zu glauben, Filippos Verschwinden habe eine
sichtbare Lücke im Leben der Eltern hinterlassen. Eine klaffende Wunde, die
schon den Einrichtungsgegenständen anzusehen war, sodass man sie nur berühren
musste, damit sie anfingen, zu bluten. Doch von dem Zwölfjährigen fehlte hier
jede Spur: Es gab weder Fotos noch andere Erinnerungsstücke. Möglicherweise
bestand der Schmerz ja genau aus dieser Abwesenheit und konnte nur von den
Eltern wahrgenommen werden. Dann verstand er: Als er den kleinen Filippo und
die anderen Kinder auf der Polizei-Webseite betrachtet hatte, hatte er sich
gefragt, wie es war, mit so etwas leben zu müssen. Das war etwas ganz anderes
als der Tod eines Kindes. Verschwand jemand spurlos, blieben furchtbare
Zweifel. Zweifel, die sich überall einnisteten und alles vergifteten. Für
Stunden. Tage. Jahre. Ohne, dass sie jemals zerstreut wurden. Im Vergleich dazu
war es einfacher, die Gewissheit zu haben, dass das eigene Kind nicht mehr
lebte.
    Der Tod zerstörte die schönsten Erinnerungen, tränkte sie mit
Schmerz und machte sie unerträglich. Der Tod warf sich zum Herrscher über die
Vergangenheit auf. Aber Zweifel waren noch schlimmer, weil sie auch die Zukunft
zerstörten.
    Marcus betrat Ettores und Camillas Schlafzimmer. Auf den Kissen des
Ehebetts lagen die jeweiligen Schlafanzüge. Die Tagesdecke war glatt
gestrichen, die Pantoffeln standen genau parallel. Hier war alles an seinem
Platz. So als könnte die Ordnung den Schmerz lindern, das durch die Tragödie
hervorgerufene Chaos zähmen, die Umgebung kontrollieren, den Gegenständen ihre
Normalität zurückgeben, damit sie einen beruhigen, einem weismachen, dass alles
in Ordnung ist.
    Und in diesem Idyll entdeckte er endlich auch Filippo.
    Er lachte aus einem Bilderrahmen, zusammen mit seinen Eltern. Er war
nicht vergessen worden. Auch er hatte seinen Platz: auf der Kommode unter einem
Spiegel. Marcus wollte das Zimmer gerade verlassen, als sein Blick an einem Gegenstand
hängen blieb, und er merkte, dass er sich getäuscht hatte.
    Auf Camillas Nachttisch stand ein Babyfon.
    Dafür gab es nur eine Erklärung: Es sollte den Schlaf eines Kindes
überwachen.
    Überrascht ging Marcus zum Nebenzimmer. Die Tür war geschlossen. Als
er sie öffnete, sah er, dass es einst Filippo gehört hatte. Neben seinem Bett
stand jetzt eine Wiege. Der Platz war gerecht aufgeteilt. Es gab Poster von
seiner Lieblingsfußballmannschaft, einen Schreibtisch für die Schulaufgaben,
aber auch einen Wickeltisch, einen Schaukelstuhl, jede Menge Kleinkindspielzeug
und eine Spieldose mit kleinen Bienen, die einen Kreis bildeten und sich an den
Händen hielten.
    Filippo wusste es zwar noch nicht, aber er hatte einen kleinen
Bruder oder eine kleine Schwester bekommen.
    Das

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