Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
Vom Netzwerk:
hier raus!« Ohne dass es ihr bewusst war,
schlug sie einen flehenden Ton an.
    »Wir sind im Bad und kommen gleich zu Ihnen.«
    In diesem Moment hörte Sandra Schritte, die sich in die
entgegengesetzte Richtung entfernten.
    Das Augenpaar, das ihr eine Todesangst eingejagt hatte, ergriff die
Flucht.

14 Uhr 03
    Sie waren in einer der Stafettenwohnungen der Pönitenziarie,
die zu den in ganz Rom verstreuten Vatikanbesitztümern gehörten. Hier gab es
einen Erste-Hilfe-Koffer und einen internetfähigen Computer.
    Clemente hatte ihm frische Kleidung und Tramezzini mitgebracht,
damit er wieder zu Kräften komme. Marcus nähte sich gerade mit nacktem
Oberkörper vor dem Badezimmerspiegel die Wunde mit Nadel und Faden – noch so
eine Fähigkeit, an deren Vorhandensein er sich nicht mehr erinnert hatte. Wie
immer vermied er es, sich im Spiegel zu betrachten, und konzentrierte sich ganz
auf sein Tun.
    Nach der an der Schläfe war das nicht erst seine zweite Narbe.
    Er war noch an anderen Stellen gezeichnet. Die Amnesie verhinderte,
dass er in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen suchen konnte, also hatte er
seinen Körper inspiziert: nach Spuren kleinerer Verletzungen wie die rosa Kerbe
am Knöchel oder die der Schnittwunde in der Ellenbeuge. Vielleicht war er als
Kind mit dem Fahrrad gestürzt oder hatte als Erwachsener einen banalen
Haushaltsunfall gehabt. Leider hatten sie keine weiteren Erinnerungen zutage
gefördert. Es war traurig, keine Vergangenheit zu haben. Dem Kind, dessen
Knochen er gefunden hatte, war dagegen die Zukunft verwehrt worden. Wenn man so
wollte, waren sie beide gestorben, nur dass Marcus’ Tod besonders bizarr war,
weil er umgekehrt vonstattenging.
    Auf der Fahrt von Canestraris Klinik zu ihrem Unterschlupf hatte
Clemente ihn über Astor Goyash informiert.
    Der Bulgare machte krumme Geschäfte, war siebzig Jahre alt und lebte
seit etwa zwanzig Jahren in Rom. Er verdiente sein Geld mit Immobilien, aber
auch mit Prostitution. Er hatte alles andere als einen guten Ruf, denn er
arbeitete mit dem organisierten Verbrechen zusammen und betrieb Geldwäsche.
    »Was hat so jemand wohl mit Alberto Canestrari zu tun?«, fragte
Marcus nun, der sich das Ganze einfach nicht erklären konnte.
    Sein Freund reichte ihm Watte und Desinfektionsmittel und überlegte
laut: »Sollten wir uns nicht zuallererst fragen, wer diesen Knochen dort
hinterlegt hat?«
    »Das war unser geheimnisvoller Pönitenziar!«, sagte Marcus voller
Überzeugung. »Als er sich nach Canestraris Beichte des Falls angenommen hat,
hat er die Überreste des Jungen im Sondermüll gefunden. Vielleicht hat es der
Chirurg einfach nicht über sich gebracht, sie zu entsorgen. Zum Glück hat der
Pönitenziar Astor Goyashs Namen in den Oberarmknochen eingeritzt und ihn so
versteckt, dass er gefunden werden könnte. Das hat auch verhindert, dass er bei
dem Klinikbrand zerstört wurde.«
    »Versuchen wir, den Fall zu rekonstruieren!«, schlug Clemente vor.
»Also … Canestrari tötet ein Kind. An dem Mord ist auch ein Schwerkrimineller
beteiligt: Astor Goyash. Warum, wissen wir noch nicht.«
    »Der Bulgare traut Canestrari nicht: Der Arzt ist psychisch labil
und könnte Fehler machen. Also behält Goyash ihn im Auge: deshalb die
Mikrokameras in Canestraris Praxis.«
    »Der Selbstmord des Chirurgen muss ein Alarmsignal für den Bulgaren
gewesen sein.«
    »Daher haben seine Männer kurz darauf die Klinik in Brand gesteckt –
in der Hoffnung, so sämtliche Beweise für den Mord an dem Jungen zu vernichten.
Vorher haben sie bereits die Spritze verschwinden lassen, mit der Canestrari
sich den tödlichen Wirkstoff verabreicht hat, um zu verhindern, dass die
Polizei Ermittlungen anstellt.«
    »Ganz genau«, stimmte ihm Marcus zu. »Aber damit ist die große
Frage, was einen berühmten Wohltäter mit einem Kriminellen verbindet, immer
noch nicht beantwortet.«
    Clemente reagierte ausweichend: »Ehrlich gesagt, kann ich da
keinerlei Verbindung erkennen. Wie du schon richtig gesagt hast: Die beiden
stammen aus vollkommen unterschiedlichen Welten.«
    »Und trotzdem gibt es irgendeinen roten Faden, der vom einen zum
anderen führt.«
    Clemente versuchte sich erneut in Überzeugungsarbeit: »Hör mal,
Marcus, für Lara wird die Zeit knapp. Vielleicht solltest du diesen Fall
zurückstellen und dich lieber auf die Suche nach der Studentin konzentrieren.«
    Marcus wunderte sich über die Aufforderung. Er gab vor, sich ganz
auf die Verarztung seiner Wunde zu konzentrieren,

Weitere Kostenlose Bücher