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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Minuten später sah sie, wie der Kollege mit Davids beiden
großen Seesäcken zurückkehrte.
    Er trug sie an den Griffen, statt sie sich wie David schräg
umzuhängen: einen rechts und einen links, was ihren Mann immer ein wenig hatte
watscheln lassen.
    »Du siehst aus wie ein Packesel, Fred.«
    »Aber ich gefalle dir trotzdem, Ginger.«
    Es traf sie wie ein Faustschlag, als sie die Seesäcke sah, aber
damit hatte sie gerechnet. In diesen Gepäckstücken steckte ihr David, sie
enthielten seine gesamte Welt. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie ruhig in
der Asservatenkammer bleiben können, bis irgendjemand sie aus Versehen entsorgt
hätte. Aber mit seinem Telefonat am Vorabend hatte Schalber ihren
unausgesprochenen Fragen ein ganz neues Gewicht verliehen. Fragen, die sie belasteten,
seit sie Davids Lüge bemerkt hatte. Sie durfte nicht zulassen, dass jemand
ihren Mann infrage stellte, und vor allem sie selbst durfte das auf keinen Fall
tun.
    »Hier sind sie!«, sagte der Kollege und ließ die Säcke auf den
Tresen plumpsen.
    Sandra musste den Empfang nicht quittieren. Im Grunde hatte man ihr
mit der Aufbewahrung nur einen Gefallen getan. Das Revier in Rom hatte die
Seesäcke nach dem Unfall hierhingeschickt, und sie hatte sie einfach nicht abgeholt.
    »Willst du nachsehen, ob etwas fehlt?«
    »Nein, danke, das ist schon in Ordnung.«
    Auf einmal sah der Kollege sie ganz mitleidig an.
    Bitte nicht!, dachte Sandra unwillkürlich.
    Doch er tat es trotzdem. »Kopf hoch, Vega! David hätte sich
gewünscht, dass du stark bist.«
    Nur wer zum Teufel war dieser »David« eigentlich?, fragte sie sich,
während sie sich zu einem Lächeln zwang. Dann bedankte sie sich und nahm Davids
Seesäcke mit.
     
    —
     
    Eine halbe Stunde später war sie wieder zu Hause. Sie
stellte die Säcke neben der Wohnungstür auf den Boden und ließ sie erst mal
dort stehen. Noch hielt sie Abstand und beobachtete sie aus der Ferne – wie ein
streunender Hund, der um das Futter herumschleicht, das man ihm anbietet, weil
er noch überlegt, ob er dem Ganzen trauen kann. Sie dagegen musste erst all
ihren Mut zusammennehmen, bevor sie mit der Untersuchung begann. Sie ging auf
die Säcke zu und wieder zurück. Sie machte sich einen Tee, setzte sich aufs
Sofa und wärmte die Hände an der Tasse, ohne die Säcke auch nur einen Moment
aus den Augen zu lassen. Jetzt erst dachte sie über das nach, was sie getan
hatte.
    Sie hatte David zu sich nach Hause geholt.
    Vielleicht hatte sie in all den Monaten heimlich gehofft, sich
ausgemalt, geglaubt, dass er irgendwann wiederkommen würde. Die Vorstellung,
dass sie sich nie mehr lieben würden, machte sie wahnsinnig. Es gab Momente, in
denen sie vergaß, dass er tot war. Ihr fiel etwas auf, und sie dachte: »Das
muss ich unbedingt David erzählen.« Bis die grausame Wahrheit wieder über sie
hereinbrach und sie mit Bitterkeit erfüllte.
    David würde nie mehr wiederkommen, Schluss, aus, vorbei!
    Sandras Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, an dem sie sich dieser
Wahrheit erstmals gestellt hatte. Hier an der Wohnungstür, an einem ruhigen
Vormittag wie diesem. Sie hatte die beiden Polizisten draußen warten lassen.
Denn solange sie dort blieben, solange sie ihre Schwelle nicht überschritten,
war die Nachricht von Davids Tod noch nicht real. So lange musste sie sich
nicht mit dem, was ihr berichtet wurde, auseinandersetzen. Mit diesem Tornado,
der alles verwüstete und gleichzeitig unangetastet ließ. Sie konnte sich nicht
vorstellen, wie sie das überleben sollte.
    Und trotzdem bin ich noch hier!, sagte sie sich. Und wenn Schalber
sich für dieses Gepäck interessiert, muss es einen guten Grund dafür geben.
    Sie stellte die Teetasse auf den Boden und ging zu den Seesäcken.
Zuerst griff sie zu dem leichteren, in dem sich nur Kleider befanden. Sie
stellte ihn auf den Kopf und leerte ihn aus. Hemden, Hosen, Pullis – alles durcheinander.
Sie trugen Davids Duft, doch sie bemühte sich, ihn zu ignorieren.
    Meine Güte, fehlst du mir, Fred!
    Sie verbat sich zu weinen, durchwühlte hektisch seine Kleider.
Bilder von David in diesen Kleidern tauchten vor ihrem inneren Auge auf.
Momentaufnahmen aus ihrem gemeinsamen Leben. Sie empfand Sehnsucht, aber auch
Zorn und eine Mordswut.
    Nichts Auffälliges befand sich unter seinen Sachen. Sie überprüfte
sämtliche Innen- und Außentaschen: nichts.
    Sandra war erschöpft. Das Schlimmste hatte sie hinter sich. Jetzt
fehlte nur noch der Sack mit den Arbeitsutensilien, und

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