Der Seelensammler
in der Nacht, rief er
sich in Erinnerung. In diesem Moment merkte er, dass es ein Fehler gewesen war,
das obere Stockwerk nicht zuerst zu überprüfen.
»Mach sie aus.«
Die Stimme kam von der Treppe hinter ihm und bezog sich eindeutig
auf die Taschenlampe in seiner Hand. Er gehorchte, ohne sich umzudrehen. Wer
auch immer das war, er war schon bei seinem Eintreffen hier gewesen. Marcus konzentrierte
sich auf die ihn umgebende Stille. Der Mann war nur wenige Meter von ihm
entfernt. Wer weiß, wie lange er ihn schon beobachtet hatte.
»Dreh dich um!«, befahl die Stimme.
Marcus gehorchte langsam. Das Hoflicht fiel schwach durch das Fenstergitter
und warf ein Raster an die Wand, das an einen Käfig erinnerte. Darin war der
Unbekannte gefangen wie ein wildes Tier, wie eine dunkle, bedrohliche Silhouette.
Ein Schattenprofil im Schatten. Der Mann war mindestens zwanzig Zentimeter
größer als er und von robuster Statur. Lange Zeit rührte sich keiner von
beiden, kein Wort wurde gesprochen. Dann kam die Stimme erneut aus der
Dunkelheit.
»Bist du das?«
Seiner Stimme nach schien er kaum erwachsen zu sein. Marcus hörte
Wut, aber auch Angst heraus.
»Du bist es, du Hurensohn!«
Er konnte nicht wissen, ob der andere bewaffnet war. Er schwieg,
überließ dem anderen das Reden.
»Ich habe dich gestern Morgen mit dem anderen Kerl hier gesehen.«
Marcus begriff, dass er von seinem ersten Besuch mit Clemente sprach. »Seit
zwei Tagen behalte ich diese Wohnung im Auge. Was wollt ihr von mir?«
Marcus versuchte, aus diesen Worten schlau zu werden, doch noch
erschloss sich ihm ihre Bedeutung nicht. Außerdem hatte er nicht die geringste
Ahnung, was nun geschehen würde.
»Versucht ihr, mich reinzulegen?«
Der Schatten machte einen Schritt auf ihn zu. Marcus erkannte seine
Hände und sah, dass er unbewaffnet war. Deshalb sagte er aufs Geratewohl: »Ich
weiß gar nicht, wovon du redest.«
»Du willst mich wohl verarschen!«
»Vielleicht sollten wir uns lieber woanders weiterunterhalten«,
schlug Marcus vor, in der Hoffnung, das Gespräch in Gang zu halten.
»Wir reden jetzt darüber.«
Marcus beschloss, sich aus der Deckung zu wagen. »Bist du wegen des
verschwundenen Mädchens hier?«
»Ich weiß nichts von dem Mädchen, mit dieser Sache habe ich nichts
zu tun. Willst du mich reinlegen, du Arschloch?«
Vermutlich sagte der andere die Wahrheit: Denn wenn er Jeremiahs
Komplize war, wäre er das Risiko nicht eingegangen, hierher zurückzukehren.
Marcus antwortete nicht darauf. Noch bevor er etwas sagen konnte,
stürzte sich der Fremde auf ihn, packte ihn am Kragen und stieß ihn gegen die
Wand. Dann nahm er ihn in den Schwitzkasten. Mit der anderen Hand griff er nach
einem Umschlag und fuchtelte ihm damit vor dem Gesicht herum: »Hast du mir
diesen Scheißbrief geschrieben?«
»Das war ich nicht.«
»Was hast du dann hier zu suchen?«
Marcus musste erst einmal herausfinden, was das hier mit Laras
Verschwinden zu tun hatte.
»Wir können gern über diesen Brief reden, wenn du das willst.«
Aber der Junge hatte nicht vor, ihm die Gesprächsführung zu
überlassen. »Schickt dich Ranieri? Sag dem Mistkerl, dass ich nichts mehr mit
ihm zu tun haben will.«
»Glaub mir, ich kenne keinen Ranieri.«
Marcus versuchte, sich zu befreien, aber der Junge lockerte seinen
Griff nicht. Er war noch nicht fertig.
»Bist du Polizist?«
»Nein.«
»Und was soll das Symbol? Niemand wusste etwas von dem Symbol.«
»Welches Symbol denn?«
»Das in dem Brief, du Arschloch.«
Der Brief und das Symbol: Marcus merkte sich diese Informationen.
Viel war das nicht, aber vielleicht half es ihm zu verstehen, was der Junge
vorhatte. Doch unter Umständen redete er auch nur wirres Zeug. Er musste die
Lage wieder unter Kontrolle bekommen. »Hör endlich auf, von diesem komischen
Brief zu reden. Davon weiß ich nichts.«
Der Junge zögerte. »Wer zum Teufel bist du?«
Marcus antwortete nicht und hoffte, der andere würde sich wieder
beruhigen. Doch dann wurde er unversehens zu Boden geworfen und vom Angreifer
niedergedrückt. Er versuchte sich zu wehren, aber der Junge kniete auf seiner
Brust und schlug heftig zu. Marcus hob die Arme, um seinen Kopf zu schützen,
doch die Fausthiebe betäubten ihn. Er schmeckte Blut und glaubte schon,
ohnmächtig zu werden, als er merkte, dass der Wutausbruch vorbei war. Von
seiner Position aus sah er, wie der Junge die Wohnungstür öffnete. Einen kurzen
Moment lang nahm er ihn in dem Licht, das aus dem
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