Der Seelensammler
nicht so genau wissen wollte.
Um die negativen Gedanken zu verdrängen, widmete sie sich dem
restlichen Inhalt des Seesacks.
Ganz unten lag die Leica I. Diese Kamera war 1925 von Oskar Barnack
entwickelt und schließlich vom genialen Ernst Leitz perfektioniert worden. Sie
war die erste, mit der man auch ohne Stativ fotografieren konnte. Weil sie so
handlich war, hatte sie die Kriegsfotografie regelrecht revolutioniert.
Sie besaß eine perfekte Mechanik: einen horizontal ablaufenden
Stoffverschluss, eine Verschlusszeit von ½0 bis 1/500 Sekunden, eine feste
Brennweite von 50 mm. Ein echtes Sammlerstück.
Sandra hatte sie David zu ihrem ersten Jahrestag geschenkt. Sie
wusste noch, wie überrascht er gewesen war, als er das Päckchen geöffnet hatte.
Mit ihrem Gehalt hätte sie sich so ein Geschenk nie leisten können. Aber Sandra
hatte die Kamera von ihrem Großvater geerbt, von dem sie auch die Leidenschaft
fürs Fotografieren hatte.
Sie war eine Art Familienandenken, und David trennte sich nie von
ihr. Sie sei sein Glücksbringer, behauptete er immer.
Aber auch sie hat dir nicht das Leben retten können!, dachte Sandra.
Die Leica befand sich noch in der Originallederhülle, in die sie die
Initialen DL hatte einprägen lassen. Sie öffnete die Hülle und betrachtete die
Kamera lange. Dabei versuchte sie, sich Davids Blick vorzustellen, der jedes
Mal strahlte wie ein Kind, wenn er sie benutzte. Sie wollte sie gerade wieder
verstauen, als sie beim Drehen am Transportrad, wie es fachlich korrekt hieß,
einen Widerstand spürte: In der Kamera befand sich noch ein Film.
David hatte sie zum Fotografieren benutzt.
7 Uhr 10
Untereinander nannten sie sie nur »Stafetten«: Gemeint waren
sichere, über die ganze Stadt verteilte Wohnungen, die als Logistikzentrum,
vorübergehender Zufluchtsort oder auch nur zum Ausruhen dienten. Auf den
Klingelschildern standen in der Regel irgendwelche erfundenen Firmennamen.
Eine solche Wohnung betrat Marcus gerade. Er war schon einmal mit
Clemente hier gewesen. Bei dieser Gelegenheit hatte er ihm erzählt, dass sie in
Rom mehrere Immobilien besaßen. Der jeweilige Schlüssel war in einem Spalt
neben der Tür versteckt.
Die Schmerzen hatten ihn wie erwartet gegen Morgengrauen ereilt.
Marcus war deutlich anzusehen, dass man ihn verprügelt hatte. Außer den blauen
Flecken in Rippenhöhe, die ihm die Vorfälle dieser Nacht bei jedem Atemzug
wieder ins Gedächtnis riefen, hatte er eine geplatzte Lippe und einen
geschwollenen Wangenknochen. Hinzu kam die Narbe an der Schläfe. In dieser
Geballtheit musste das auf Außenstehende höchst befremdlich wirken.
In einer Stafettenwohnung gab es Lebensmittel, ein Bett, warmes
Wasser, einen Erste-Hilfe-Koffer, falsche Papiere und einen sicheren Computer
mit Internetanschluss. Doch die Wohnung, für die sich Marcus entschieden hatte,
war leer. Es gab keinerlei Möbel, und die Rollläden waren heruntergelassen. In
einem der Zimmer stand ein Telefon auf dem Boden. Es funktionierte.
Die Wohnung diente nur dazu, diesen Apparat zu beherbergen.
Clemente hatte ihm erklärt, dass es besser war, keine Handys zu
benutzen. Auf diese Weise hinterließ Marcus keine Spuren.
Mich gibt es gar nicht, sagte er sich, bevor er die Auskunft anrief.
Nach wenigen Minuten nannte ihm eine freundliche Stimme Raffaele
Altieris Adresse und Telefonnummer – die des Angreifers aus Laras Wohnung.
Marcus legte auf und rief den Jungen gleich anschließend an. Er ließ es so
lange läuten, bis er sich sicher sein konnte, dass niemand zu Hause war.
Anschließend begab er sich zu der Adresse, um Raffaele Altieri nun seinerseits
einen Besuch abzustatten.
Bald darauf stand er im strömenden Regen an der Ecke zur Via Rubens
und ließ das vierstöckige Gebäude im vornehmen Parioli-Viertel nicht aus den
Augen.
Es gelang ihm, sich über die Garage Zutritt zu verschaffen. Die
Wohnung, für die er sich interessierte, lag im dritten Stock. Marcus legte ein
Ohr an die Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand darin war. Er konnte
keinerlei Geräusche vernehmen und beschloss, das Risiko einzugehen: Er musste
wissen, wer sein Angreifer war.
Er brach das Schloss auf und betrat die Wohnung.
Sie war groß, und die Möbel darin ließen auf guten Geschmack, aber
auch auf beträchtlichen Reichtum schließen: Antiquitäten und wertvolle Bilder,
ein heller Marmorfußboden, weiß lackierte Türen. Ansonsten konnte er nichts Auffälliges
feststellen, nur dass sie nicht so aussah, als
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