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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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gehöre sie einem brutalen
Schläger.
    Marcus begann mit der Durchsuchung. Er musste sich beeilen, denn es
konnte jederzeit jemand hereinkommen.
    Ein Zimmer war als Fitnessraum eingerichtet. Es gab eine Kraftbank
und Langhanteln, eine Sprossenwand, ein Laufband und alle möglichen anderen
Fitnessgeräte. Raffaele Altieri war Bodybuilder, und Marcus hatte das am
eigenen Leib zu spüren bekommen.
    Die Küche ließ darauf schließen, dass er allein lebte. Im
Kühlschrank befanden sich nur fettarme Milch und Energydrinks, in den Regalen
Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel.
    Das dritte Zimmer war ebenfalls aufschlussreich: ein ungemachtes
Einzelbett. Bettwäsche mit Star-Wars-Motiven. Über dem Kopfende hing ein Poster
von Bruce Lee, die anderen Wände waren mit Plakaten von Rockstars und Rennmotorrädern
geschmückt. Eine Stereoanlage in einem Regal, eine Elektrogitarre in der Ecke.
    Das Zimmer eines Halbwüchsigen.
    Wie alt Raffaele wohl war? Diese Frage wurde ihm beantwortet, als er
das vierte Zimmer betrat.
    Ein Stuhl und ein an die Wand geschobener Schreibtisch waren die
einzigen Einrichtungsgegenstände. Darüber hing eine Collage aus
Zeitungsartikeln. Das Papier war vergilbt, aber gut erhalten.
    Die Artikel waren neunzehn Jahre alt.
    Marcus trat näher, um sie zu lesen. Sie waren von links nach rechts
chronologisch sortiert.
    Es ging um einen Doppelmord. Die Opfer waren Raffaeles Mutter
Valeria Altieri und ihr Liebhaber.
    Marcus konzentrierte sich auf die Fotos aus damaligen Zeitungen und
Illustrierten. Sie hatten das brutale Verbrechen verharmlost, indem sie es in
mondänen Klatsch verwandelt hatten.
    Denn dafür erfüllte es sämtliche Voraussetzungen.
    Valeria Altieri war schön, elegant und verwöhnt, sie führte ein
Leben im Luxus. Ihr Mann war Guido Altieri, ein bekannter Wirtschaftsanwalt,
der sich häufig im Ausland aufhielt. Er war reich, skrupellos und äußerst
mächtig. Marcus sah ihn auf einem Foto von der Beerdigung seiner Ehefrau. Trotz
des Skandals, in den er hineingezogen worden war, wirkte er ernst und gefasst,
während er den Sarg betrachtete und den damals dreijährigen Raffaele an der
Hand hielt. Valerias Liebhaber war ein bekannter Skipper gewesen, der
zahlreiche Regatten gewonnen hatte. Eine Art Gigolo, der einige Jahre jünger
war als sie.
    Das Verbrechen hatte hohe Wellen geschlagen: zum einen, weil
Prominente darin verwickelt waren, zum anderen, weil das im Bett überraschte
Liebespaar regelrecht hingerichtet worden war. Es war von mindestens zwei
Tätern die Rede. Trotzdem hatte es weder Verhaftungen noch Verdächtige gegeben.
Die Mörder waren nie gefasst worden.
    Dann fiel Marcus ein Detail auf, das ihm bei der ersten Lektüre
entgangen war. Der brutale Mord hatte genau an diesem Ort stattgefunden – in
der Wohnung, in der der mittlerweile zweiundzwanzigjährige Raffaele nach wie
vor lebte.
    Während seine Mutter abgeschlachtet worden war, hatte er in seinem
Bettchen geschlafen.
    Entweder hatten die Mörder ihn nicht bemerkt, oder sie hatten ihn
bewusst verschont. Als das Kind am Morgen nach der Tat aufgewacht war, hatte es
das Schlafzimmer betreten und die von siebzig Messerstichen entstellten Leichen
gesehen. Marcus stellte sich vor, wie Raffaele in verzweifeltes Schluchzen ausgebrochen
war, ohne überhaupt verstehen zu können, was er da sah. Valeria hatte den
Dienstboten freigegeben, um ihren Liebhaber ungestört empfangen zu können.
Deshalb war der Mord erst entdeckt worden, als der Anwalt Altieri von seiner
Geschäftsreise aus London zurückgekommen war.
    Der Kleine war zwei Tage lang mit den Leichen allein gewesen.
    Sosehr er sich auch anstrengte: Marcus konnte sich keinen
schlimmeren Albtraum vorstellen. Eine Erinnerung tauchte auf, das Gefühl von
Einsamkeit, Verlassenheit.
    Er wusste nicht, wann er dies empfunden hatte, aber er trug es in
sich. Seine Eltern lebten nicht mehr, sodass er sie nicht danach fragen konnte.
Sogar die Trauer über diesen Verlust hatte er vergessen – vielleicht einer der
wenigen Vorteile seiner Amnesie.
    Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit und sah sich den
Schreibtisch näher an.
    Ein Stapel Akten lag darauf. Am liebsten hätte Marcus sich
hingesetzt und sich in aller Ruhe mit den Unterlagen beschäftigt. Aber dafür
war jetzt keine Zeit. Sein Aufenthalt in dieser Wohnung wurde immer riskanter.
Deshalb blätterte er sie nur durch und überflog kurz den Inhalt.
    Es handelte sich um Polizeifotos, um Kopien von

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