Der Seelensammler
Hof kam, von hinten wahr.
Dann fiel die Tür hinter ihm zu. Er hörte seine Schritte, die sich schnell
entfernten.
Marcus wartete ein wenig, bevor er versuchte, aufzustehen. Ihm war
schwindelig, und in seinen Ohren schrillte ein Pfeifen. Schmerzen hatte er
keine – noch nicht. Die würden geballt über ihn hereinbrechen, aber erst nach
einer gewissen Zeit. Dann würde ihm alles wehtun, auch dort, wo er nicht
getroffen worden war. Er wusste nicht genau, woher diese Erinnerung kam, doch
er wusste, dass sie zutraf.
Er setzte sich auf, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Der
Junge war ihm entkommen, dabei hätte er ihn irgendwie aufhalten müssen. Er
versuchte, nicht zu streng mit sich zu sein. Wahrscheinlich hätte er ihm
ohnehin kein vernünftiges Wort entlocken können. Auf jeden Fall wusste er jetzt
mehr.
Bei ihrem Zusammenstoß hatte er den Brief an sich genommen.
Er tastete nach der Taschenlampe, die ihm kurz zuvor entglitten war,
fand sie und klopfte zweimal darauf, bis sie wieder anging und den Umschlag
beleuchtete.
Es stand kein Absender darauf, aber adressiert war er an einen
gewissen Raffaele Altieri. Der Datumsstempel auf der Briefmarke war drei Tage
alt. In dem Umschlag befand sich ein Blatt Papier, auf dem in Druckbuchstaben
nur die Adresse von Laras Wohnung stand: Via Coronari. Aber das, was ihn
zusammenzucken ließ, war das Symbol anstelle der Unterschrift.
Drei kleine rote Punkte, die ein Dreieck bildeten.
6 Uhr
Sie hatte nicht geschlafen. Nach Schalbers Anruf hatte sie
sich stundenlang im Bett hin und her gewälzt. Bis der Radiowecker um fünf Uhr
geklingelt hatte und Sandra aufgestanden war.
Sie hatte sich hastig zurechtgemacht und ein Taxi zum Revier
genommen. Sie wollte nicht, dass einer der Kollegen ihren Wagen bemerkte.
Sicherlich hätte niemand nachgefragt, aber sie konnte die Blicke der anderen
seit einer Weile nur noch schwer ertragen. Die Witwe – wurde sie so genannt?
Auf jeden Fall war es das, was sie über sie dachten. Sobald sie ihr begegneten,
überschütteten sie sie mit klebrigem Mitleid. Das Schlimmste daran war, dass
sich viele offenbar verpflichtet fühlten, etwas zu sagen. Mittlerweile kannte
sie ihre Phrasen in- und auswendig. Die häufigste lautete: »Kopf hoch! David
hätte gewollt, dass du stark bist.« Am liebsten hätte sie alles aufgenommen, um
ihnen dann zu beweisen, dass es Schlimmeres gab als Gleichgültigkeit, nämlich
die Plattitüden, mit denen man versucht, fremdes Leid zu lindern.
Aber wahrscheinlich war sie nur überempfindlich. Auf jeden Fall
wollte sie pünktlich zum Schichtwechsel in der Asservatenkammer sein.
Sie brauchte zwanzig Minuten. Vorher ging sie noch schnell in die Bar,
um ein Cornetto und einen Cappuccino to go zu holen. Dann fand sie sich bei dem
Kollegen ein, dessen Schicht gerade endete.
»Ciao Vega!«, sagte er, als sie zu ihm hinter den Tresen trat. »Was
machst du denn um diese Uhrzeit hier?«
Sandra versuchte, ein möglichst unbeschwertes Lächeln aufzusetzen:
»Ich hab dir Frühstück mitgebracht.«
Diese Last nahm er ihr nur allzu gern ab. »Du bist wirklich
großartig! Heute Nacht war jede Menge los. Eine Bande Kolumbianer, die vor dem
Lambrate-Bahnhof gedealt hat, ist verhaftet worden.«
Sandra wollte sich nicht lange mit Small Talk aufhalten und kam
sofort zur Sache: »Ich möchte die Seesäcke abholen, die seit fünf Monaten hier
liegen.«
Der Kollege musterte sie überrascht, zeigte sich aber auf Anhieb
hilfsbereit. »Ich hole sie dir gleich.«
Er verschwand in den langen Fluren der Asservatenkammer. Sandra
hörte, wie er bei seiner Suche laut vor sich hin murmelte. Sie war ungeduldig,
versuchte jedoch, sich zu beherrschen. In letzter Zeit ging ihr einfach alles
auf die Nerven. Ihre Schwester meinte, sie befinde sich gerade in einer der
vier Trauerphasen. Dieses Wissen hatte sie aus einem Ratgeber. Allerdings
konnte sie ihr nicht sagen, welche Phase das genau war und wann sie vorüber
wäre. Sandra hatte da so ihre Zweifel, ließ sie jedoch reden, genau wie ihre
restliche Verwandtschaft. Niemand wollte sich wirklich mit ihrem Schicksal
auseinandersetzen. Nicht aus mangelndem Mitgefühl, das nicht, sondern weil es
keine bewährten Ratschläge für eine neunundzwanzigjährige Witwe gab. Daher
beschränkten sie sich darauf, Sätze aus Zeitschriften zu zitieren. Oder sie
berichteten von Erfahrungen entfernter Bekannter. Das genügte, um ihr
schlechtes Gewissen zu beruhigen, und im Grunde war es Sandra nur recht.
Fünf
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