Der Seelensammler
Wahrscheinlich hatte der Entführer eine Taschenlampe
dabeigehabt. Er zog seine eigene hervor und begann, alles abzuleuchten. Der
Lichtkegel förderte Möbel und Einrichtungsgegenstände zutage.
Marcus wusste nicht genau, wonach er suchte, war aber davon überzeugt,
dass es eine Verbindung zwischen der jungen Studentin und Jeremiah gab. Lara
war nicht nur ein Zufallsopfer, sie war ein Objekt der Begierde. Marcus musste
wissen, was die beiden miteinander verband. Nur so konnte er herausfinden, wo
das Mädchen gefangen gehalten wurde. Natürlich waren das alles nur Vermutungen,
durchsetzt von Hoffnung, aber noch wollte er keine seiner Thesen verwerfen.
Aus der Ferne hörte er das Kläffen der herrenlosen Hunde.
Mit dieser traurigen Hintergrundmusik erkundete er das Erdgeschoss,
das kleine Bad mit der Falltür, durch die der Entführer gekommen war. Neben der
Duschwanne befand sich ein Regal, in dem einige Duschgels, Shampoo- und Haarkurflaschen
der Größe nach aufgereiht waren. Das Gleiche galt für die Waschmittel neben der
Waschmaschine. Über dem Waschbecken hing ein Spiegelschrank: Darin befanden
sich Kosmetikprodukte und Medikamente. Der Kalender an der Tür war bis zum
letzten Tag des Monats abgerissen.
Draußen bellten die Hunde und knurrten sich an, so als rauften sie
miteinander.
Marcus kehrte in das kleine Wohnzimmer mit der Kochzeile zurück.
Bevor Jeremiah Smith ins obere Stockwerk gegangen war, hatte er sich die Mühe
gemacht, die Zuckerschale auf dem Tisch und die SUGAR-Dose im Regal zu leeren,
um sämtliche Spuren des Betäubungsmittels verschwinden zu lassen. Und das in
aller Seelenruhe, ohne jede Eile. Hier ging er keinerlei Risiko ein: Während
Lara schlief, hatte er alle Zeit der Welt.
Du bist gut, hast keinen Fehler gemacht, aber irgendetwas muss es
doch geben! Dass Serienkiller es kaum erwarten konnten, sich mit ihren Taten zu
brüsten, und sich deshalb ein Wettrennen mit denjenigen lieferten, die
versuchten, ihnen das Handwerk zu legen, war nur so ein Mythos, der
hauptsächlich von den Medien propagiert wurde, so viel wusste Marcus. Ein
Serienmörder liebte, was er tat. Und deshalb wollte er so lange wie möglich
damit fortfahren. Es interessierte ihn nicht, berühmt zu werden, das wäre eher
unpraktisch. Aber manchmal hinterließ er ein Zeichen seiner Anwesenheit. Er
wollte nicht kommunizieren, sondern sich mitteilen.
Was hast du für mich hinterlassen?, fragte sich Marcus.
Er richtete die Taschenlampe auf die Küchenregale. In einem standen
Kochbücher. Als Lara noch bei ihren Eltern gewohnt hatte, hatte sie
wahrscheinlich nie gekocht. Aber seit sie in Rom war, musste sie sich selbst
versorgen. Zwischen den Bänden mit den bunten Buchrücken fiel ihm ein schwarzes
Buch auf. Marcus trat näher und neigte den Kopf, um den Titel zu lesen. Es war
eine Bibel.
Auffälligkeiten, dachte er.
Er nahm sie und schlug sie auf der Seite auf, die von einem
rotsamtenen Lesebändchen markiert war: Der Brief des Apostels Paulus an die
Thessalonicher.
»Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.«
Was für eine makabre Ironie! Das war bestimmt kein Zufall. Hatte
jemand das Buch dort hinterlegt? Diese Worte bezogen sich auf den Tag des
Jüngsten Gerichts, beschrieben aber auch, was Lara zugestoßen war. Jemand hatte
sie entführt. Der Dieb hatte einen Menschen geraubt. Die junge Studentin hatte
Jeremiah Smith nicht bemerkt, während er wie ein Schatten um sie herumschlich.
Marcus sah sich um: das Sofa, der Fernseher, die Zeitschriften auf dem Couchtisch,
der Kühlschank mit den Magneten, das alte verkratzte Parkett. In dieser kleinen
Wohnung hatte Lara sich sicher gefühlt. Aber das hatte nicht ausgereicht, um
sie zu schützen. Wie hätte sie ihn bemerken, wie hätte sie das ahnen sollen?
Die Natur des Menschen zwingt ihn dazu, optimistisch zu sein, dachte Marcus.
Für die Arterhaltung ist es unerlässlich, dass man potenzielle Gefahren ignoriert
und sich stattdessen lieber auf die konzentriert, die am wahrscheinlichsten
sind.
Man kann nicht ständig in Angst leben.
Es sind die positiven Visionen, die uns weitermachen lassen – allen
Widrigkeiten zum Trotz. Sie haben nur einen Nachteil: Manchmal führen sie dazu,
dass wir das Böse übersehen.
In diesem Moment hörten die herrenlosen Hunde auf zu bellen. Marcus
stellten sich die Nackenhaare auf, denn plötzlich vernahm er ein neues
Geräusch. Ein fast unmerkliches Quietschen der Bodendielen.
Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb
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