Der Seelensammler
verstecken und ungestört darauf
warten konnte, dass der Mann wieder herauskam. Erst anschließend würde er in
sein Büro eindringen und herausfinden, warum er es so eilig gehabt hatte.
Während Marcus am Vormittag in der Bibliothek gewesen war, hatte ihm
Clemente wie versprochen die Akte des Falles mit dem Aktenzeichen c.g. 796-74-8 besorgt. Sie enthielt ein detailliertes
Dossier über alle darin verwickelten Personen. Clemente hatte sie ihm in einem
Briefkasten eines großen Wohnblocks hinterlegt, der nur scheinbar einem Mieter
zugeordnet war. Sie benutzten ihn regelmäßig, um Dokumente auszutauschen.
Während Marcus auf Ranieri wartete, hatte er ausreichend
Gelegenheit, sich mit dessen Profil zu beschäftigen.
Der Privatdetektiv hatte keinen sehr guten Ruf, was nicht weiter
verwunderlich war: Er war wegen Fehlverhaltens von seiner Standesvertretung
ausgeschlossen worden. Außerdem ging er noch anderen Beschäftigungen nach: In
der Vergangenheit war er an einigen Betrügereien beteiligt gewesen, die ihm
sogar eine Verurteilung wegen Scheckbetrugs eingebracht hatten. Sein bester
Kunde war Raffaele Altieri, dem er im Lauf der Jahre viel Geld abgeknöpft
hatte, bis ihre Geschäftsbeziehung plötzlich abgebrochen war. Das Büro im
Prati-Viertel diente nur als Fassade, um ahnungslose Kunden auszunehmen.
Ranieri hatte nicht einmal eine Sekretärin.
Marcus dachte gerade darüber nach, als der Schrei einer Frau im
Treppenhaus widerhallte, der eindeutig aus dem obersten Stockwerk kam.
Für einen solchen Fall gab es eindeutige Anweisungen: Er
hatte umgehend zu verschwinden. Erst wenn er sich in sicherem Abstand befand,
durfte er die Polizei verständigen. Seine Anonymität war das Allerwichtigste,
sie musste um jeden Preis gewahrt werden.
Mich gibt es gar nicht!, rief sich Marcus ins Gedächtnis.
Er wartete, ob außer ihm noch jemand im Haus den Schrei gehört
hatte. Aber niemand erschien im Treppenhaus. Marcus konnte sich nicht länger
zurückhalten: Wenn hier eine Frau in Gefahr war, würde er es sich nie
verzeihen, nicht eingeschritten zu sein. Er wollte gerade hinauf in den letzten
Stock laufen, als die Tür der Detektei aufging und Ranieri die Treppe
herunterkam. Marcus zog sich wieder in die Nische zurück, und der Mann lief an
ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Er hatte eine Ledertasche dabei.
Als Marcus sich sicher sein konnte, dass der Privatdetektiv das
Gebäude verlassen hatte, eilte er die Treppe hinauf. Hoffentlich kam er noch
rechtzeitig!
Oben auf dem Treppenabsatz versetzte er der Tür einen Tritt und fand
sich in einem engen Wartezimmer wieder. Am Ende des Flurs lag ein einziger
Raum. Marcus rannte darauf zu, zögerte aber auf der Schwelle. Er hörte es
knallen. Vorsichtig beugte er sich vor, sah dann aber, dass das Geräusch von
den offenen Fensterläden kam, die im Wind klapperten.
Von einer Frau fehlte jede Spur.
Aber es gab noch eine zweite, verschlossene Tür. Vorsichtig ging er
darauf zu. Er legte eine Hand auf die Klinke und riss sie auf, in der festen
Überzeugung ein Horrorszenario vorzufinden. Doch da war nur ein kleines Bad,
und es war leer.
Wo befand sich die Frau, die er schreien gehört hatte?
Die Ärzte hatten ihm von Klanghalluzinationen erzählt, einer
Begleiterscheinung seiner Amnesie. Das war schon mehrmals vorgekommen. Einmal
hatte er auf dem Speicher in der Via dei Serpenti ein lang anhaltendes
Telefonklingeln gehört, dabei hatte er gar kein Telefon. Ein andermal hatte
Devok seinen Namen gerufen. Er wusste nicht, ob es wirklich seine Stimme
gewesen war, er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Aber er hatte sein
Gesicht mit dieser Stimme assoziiert. Vielleicht gab es also doch eine
Hoffnung, dass seine Erinnerungen eines Tages zurückkehren würden. Die Ärzte
waren, was das anging, äußerst zurückhaltend: Amnesien aufgrund von Hirnverletzungen
seien endgültig. Sein Gedächtnisverlust sei nicht psychisch bedingt. Trotzdem
bestand die Möglichkeit, dass uralte, verdrängte Erinnerungen zurückkehrten.
Er atmete tief durch und versuchte, den Schrei der Frau zu
vergessen. Er musste herausfinden, was in diesem Zimmer geschehen war.
Er trat ans geöffnete Fenster und sah nach unten: Der Parkplatz, auf
dem Ranieri den grünen Subaru abgestellt hatte, war leer. Wenn der
Privatdetektiv den Wagen genommen hatte, würde er nicht so bald zurückkommen.
Er konnte sich also ein wenig Zeit lassen.
Auf dem Asphalt entdeckte er einen Ölfleck. Marcus brachte dieses
Detail mit den
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