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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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dass
Davids Verhalten nichts mit Gleichgültigkeit zu tun hatte, sondern einer
genauen Strategie folgte: Sobald sie Dampf abgelassen hatte, brachte er sie
dazu, genervt aufzugeben.
    Das beste Beispiel dafür war ein Streit, den sie einen Monat nach
seinem Einzug gehabt hatten.
    Schon seit einer Woche war David merkwürdig launisch gewesen. Er war
schweigsam, und Sandra hatte das Gefühl, dass er ihr aus dem Weg ging, sogar
wenn sie zu Hause waren. Er arbeitete damals zwar gerade nicht, war aber
ständig beschäftigt. Entweder schloss er sich im Arbeitszimmer ein, oder er
reparierte etwas in der Wohnung. Sandra spürte, dass etwas nicht stimmte,
vermied es jedoch, ihn darauf anzusprechen. Sie redete sich ein, ihm Zeit geben
zu müssen. David war es schließlich nicht gewohnt, so etwas wie ein Zuhause zu
haben. Außerdem hatte er noch nie mit einer Frau zusammengelebt. Doch mit der
Angst, ihn zu verlieren, wuchs auch ihre Wut darüber, dass er sich ihr ständig
entzog. Sie wusste, dass sie kurz davor stand, zu explodieren.
    Eines Nachts war es dann so weit. Im Schlaf spürte sie, wie er an
ihrer Hand zog, um sie zu wecken. Es war drei Uhr. David machte das Licht an
und setzte sich auf. Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen und suchte nach
den richtigen Worten für das, was ihm schon seit Wochen durch den Kopf ging:
nämlich, dass sie so nicht weitermachen konnten und er sich in dieser Situation
unwohl fühlte.
    Sandra versuchte, aus seinen Worten schlau zu werden, verstand aber
nur: Dieser Mistkerl verlässt mich! Sie war in ihrem Stolz verletzt und wütend,
weil er nicht einmal bis zum nächsten Morgen damit warten konnte. Deshalb stand
sie auf und begann, ihn fürchterlich zu beschimpfen und zu beleidigen. In ihrem
Zorn warf sie mit allem um sich, das sich in Reichweite befand, auch mit der
Fernbedienung. Dadurch ging zufällig der Fernseher an. Zu dieser Uhrzeit liefen
ausschließlich alte Schwarzweißfilme, und in dieser Nacht war es Ich tanz mich in dein Herz hinein mit Fred Astaire und
Ginger Rogers. Die beiden sangen gerade ein Duett.
    Die romantische Melodie, gepaart mit Sandras hysterischem Anfall,
führte zu einer fast surrealen Szene.
    Aber das Schlimmste war, dass David stumm blieb und ihre
Schimpftiraden einfach mit hängendem Kopf über sich ergehen ließ. Als Sandras
Wut einen Höhepunkt erreichte, sah sie, wie seine Hand unter das Kissen griff,
ein blau samtenes Kästchen darunter hervorzog und es mit einem scheinheiligen
Grinsen auf ihre Betthälfte legte. Daraufhin verstummte sie sofort und starrte
auf das Kästchen, dessen Inhalt sie bereits erahnte. Sie kam sich vor wie ein
Vollidiot und konnte nicht verhindern, dass ihr die Kinnlade herunterfiel.
    »Ich wollte eigentlich gerade sagen, dass wir so nicht weitermachen
können«, verkündete David. »Meiner bescheidenen Meinung nach sollten wir
heiraten. Ich liebe dich nämlich, Ginger.«
    Er sagte die magischen Worte. Zum ersten Mal gestand er ihr seine
Gefühle und nannte sie bei diesem Spitznamen, während Fred Cheek
to Cheek sang:
     
    »Heaven, I’m in Heaven,
    And my heart beats so that I can hardly speak;
    And I seem to find the happiness I seek
    When we’re out together dancing, cheek to cheek.«
     
    Sandra begann unwillkürlich zu weinen. Sie warf sich in
seine Arme, wollte einfach nur, dass er sie festhielt. Während sie an seiner
Brust schluchzte, zog sie sich aus, weil sie umgehend mit ihm schlafen wollte.
Anschließend liebten sie sich bis zum Morgengrauen. Mit Worten ließ sich kaum
beschreiben, was sie in jener Nacht empfunden hatte: pures Glück.
    In dieser Nacht hatte sie verstanden, dass das Leben mit David nicht
einfach, aber dafür intensiv sein würde. Doch schon damals hatte sie Angst
gehabt, es könnte nur ein kurzes Strohfeuer sein.
    Und genauso war es jetzt gekommen.
    Drei Jahre, fünf Monate und eine Handvoll Tage nach jener
unvergesslichen Nacht stand Sandra nun auf der verlassenen Baustelle – genau
dort, wo David, ihr David, nach seinem Sturz mit
zerschmettertem Körper gelegen hatte. Am liebsten hätte sie eine Blume
niedergelegt, doch sie wollte sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen
lassen. Sie war hergekommen, weil sie verstehen wollte.
    Nach dem Sturz hatte David den Rest der Nacht gegen den Tod
angekämpft. Als ihn ein zufällig vorbeikommender Radfahrer entdeckt und den
Krankenwagen gerufen hatte, war es bereits zu spät gewesen. Wenig später, im
Krankenhaus, war David gestorben.
    Nachdem die

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