Der Seelensammler
Schlammspritzern, die er an der Karosserie bemerkt hatte, in
Verbindung. Daraus schloss er, dass der Detektiv am Vormittag unwegsames
Gelände aufgesucht und den Subaru dabei verdreckt und beschädigt hatte.
Er schloss das Fenster und sah sich in dem Büro um.
Ranieri hatte sich kaum länger als zehn Minuten darin aufgehalten.
Was hatte er hier zu erledigen?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Marcus rief sich
eine von Clementes Lektionen in Erinnerung. Kriminologen und Profiler nannten
sie »das Rätsel des leeren Zimmers«. Dabei ging man davon aus, dass jeder
Vorfall, und war er auch noch so unbedeutend, Spuren hinterließ, die mit der
Zeit zum Vorschein kamen.
Auch wenn seine Umgebung leer wirkte, musste sie es noch lange nicht
sein. Sie enthielt jede Menge Informationen. Doch Marcus blieb nicht viel Zeit,
sie zu erkennen und das Geschehen zu rekonstruieren.
Die erste Herangehensweise war rein visuell. Also sah er sich um:
ein halb leeres Regal mit Waffenzeitschriften und juristischen Handbüchern.
Angesichts der Staubschicht, die sie bedeckte, war das reine Dekoration. Ein
durchgesessenes Sofa, ein paar Sessel vor dem Schreibtisch und ein drehbarer
Bürostuhl.
Ihm fiel die anachronistische Kombination aus Flachbildfernseher und
uraltem Videorekorder auf. Wurde so ein Gerät überhaupt noch benutzt?
Verwunderlich war zudem, dass es im ganzen Zimmer keine Videokassetten gab.
Er merkte sich dieses Detail und fuhr mit seiner Analyse fort. An
den Wänden hingen Diplome, die Ranieris Teilnahme an
Fortbildungsveranstaltungen bestätigten. Eine abgelaufene Detektivlizenz. Der
Rahmen hing schief. Marcus nahm ihn von der Wand und entdeckte einen kleinen
Safe. Die Tür war nur angelehnt. Er öffnete sie. Der Safe war leer.
Marcus dachte an die Ledertasche, mit der Ranieri sein Büro
verlassen hatte. Vielleicht hatte er etwas weggebracht. Geld? Wollte er
fliehen? Wovor oder vor wem?
In welchem Zustand befand sich das Zimmer? Als er es betreten hatte,
hatte das Fenster offen gestanden. Warum hatte der Privatdetektiv es nicht
geschlossen?
Um zu lüften!, sagte sich Markus und machte sofort eine
Schnupperprobe. Er nahm einen leichten, aber unverkennbaren Brandgeruch wahr.
Chlorophyll, dachte er. Er ging zum Papierkorb.
Darin lag ein einsames verkohltes Blatt Papier.
Ranieri hatte nicht nur etwas aus seinem Büro geholt, er hatte sich
auch einer Sache entledigt. Marcus nahm die Überbleibsel des Blattes aus dem
Papierkorb und legte sie vorsichtig auf den Schreibtisch. Dann ging er noch
einmal ins Bad, warf einen Blick auf das Etikett der Flüssigseife und nahm sie
mit. Er tauchte den Finger hinein und fuhr damit über den dunkelsten Teil des
Blattes, dort, wo er etwas Handschriftliches zu erkennen glaubte. Dann nahm er
ein Streichholz aus einer Schachtel auf dem Tisch, aus der sich kurz zuvor
wahrscheinlich auch Ranieri bedient hatte, und steckte das Blatt Papier erneut
in Brand. Vorher sammelte er sich. Er hatte nur einen Versuch, danach war das
Blatt Papier für immer zerstört.
Von den Kopfschmerzen, den Klanghalluzinationen und dem
Verlorenheitsgefühl einmal abgesehen, hatte die Amnesie auch einen
entscheidenden Vorteil: Sie hatte ihm ein phantastisches fotografisches
Gedächtnis beschert, das nach Marcus’ Überzeugung etwas mit der Leere in seinem
Kopf zu tun hatte.
Hoffentlich funktioniert es!, dachte er.
Er entzündete das Streichholz, nahm das Blatt Papier, hielt die
Flamme darunter und bewegte sie in Leserichtung von links nach rechts.
Die Tinte reagierte mit dem Glyzerin in der Seife. Da sie langsamer
verbrannte als der Rest, entstand ein gewisser Kontrast. Für einen Moment
konnte man handgeschriebene Buchstaben erkennen. Marcus überflog das Blatt, um
sie zu erfassen. Der Effekt verpuffte nach wenigen Sekunden in grauem Rauch.
Doch Marcus wusste, was er wissen wollte. Auf dem Blatt hatte eine Adresse
gestanden: Via delle Comete 19. Bevor sie sich in Luft auflöste, hatte er
jedoch auch die drei kleinen Punkte entdeckt, die das Dreieckssymbol bildeten.
Bis auf die angegebene Adresse hatte das Blatt Papier genauso
ausgesehen wie das Blatt, das er von Raffaele Altieri erhalten hatte.
14:00 Uhr
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«
De Michelis nahm am Telefon kein Blatt vor den Mund. Sandra bereute
fast, ihn eingeweiht zu haben. In Rom war der Verkehr wegen des Regens ins
Stocken geraten, und das Taxi, das sie am Bahnhof genommen hatte, kam nur mühsam
voran.
Der
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