Der Seelensammler
Ispettore wollte ihr helfen, verstand aber nicht, warum sie
gleich selbst nach Rom gefahren war.
»Bist du sicher, dass du das Richtige tust?«
Sandra hatte ihren Koffer für eine Kurzreise gepackt. Außerdem hatte
sie die Fotos aus der Leica, Davids Kalender mit den seltsamen Adressen und das
Funkgerät aus seinem Seesack mitgenommen.
»David hatte einen gefährlichen Beruf. Wir waren uns einig, dass er
mir nie sagt, wohin die Reise geht.« Ihr Mann hatte ihr damit die Ängste einer
Soldatenbraut ersparen wollen, deren Mann gerade an der Front kämpft. »Aber
warum hat er mir dann diese Lüge auf Band gesprochen? Warum musste er mir
mitteilen, dass er angeblich in Oslo ist? Ich habe lange darüber nachgedacht.
Meine Güte, bin ich blöd gewesen! Er wollte mir gar nichts verheimlichen,
sondern im Gegenteil meine Aufmerksamkeit darauf lenken.«
»Gut, einverstanden. Vielleicht hatte er eine wichtige Entdeckung
gemacht und wollte dich schützen. Doch jetzt bringst du dich unnötig in
Gefahr.«
»Das sehe ich anders. David wusste, dass seine Arbeit riskant ist.
Er wollte, dass ich ermittle, falls ihm etwas zustößt. Deshalb hat er Hinweise
für mich hinterlassen: Damit ich ihnen nachgehe.«
»Spielst du auf die Fotos aus der alten Kamera an?«
»Apropos Fotos – weißt du schon, aus welchem Gemälde der
Bildausschnitt mit dem fliehenden Kind stammt?«
»Nur anhand deiner Beschreibung kann ich dir diese Frage nicht
beantworten. Ich müsste das Bild sehen.«
»Ich habe es dir per E-Mail geschickt.«
»Du weißt doch, dass ich dieses Computerzeug … Ich werde einen
unserer Jungs bitten, es mir runterzuladen. Ich melde mich so bald wie
möglich.«
Sandra wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Er hatte fünf
Monate gebraucht, um ihr zu sagen, dass ihm Davids Tod leidtat. Trotzdem war er
ein prima Kerl.
»Ispettore …«
»Ja?«
»Seit wann bist du eigentlich verheiratet?«
De Michelis lachte. »Seit fünfundzwanzig Jahren. Warum?«
Sandra hatte wieder an Schalbers Worte gedacht. »Ich weiß, das ist
jetzt eine sehr persönliche Frage … Aber hast du jemals an deiner Frau
gezweifelt?«
Der Ispettore räusperte sich. »Einmal hat mir Barbara gesagt, dass
sie eine Freundin besucht. Ich wusste, dass sie lügt. So was spürt man einfach
als Polizist, du kennst das ja.«
»Allerdings.« Sandra war sich nicht mehr sicher, ob sie diese
Geschichte noch hören wollte. »Du musst mir das nicht erzählen, wenn du nicht
willst.«
Doch De Michelis fuhr unverdrossen fort: »Nun, daraufhin habe ich
beschlossen, sie wie einen Verbrecher zu beschatten. Sie hat mich nicht
bemerkt. Aber irgendwann habe ich mich gefragt, was ich da eigentlich tue. Und
beschlossen, sie in Ruhe zu lassen. Manche mögen das feige finden, aber das
stimmt nicht. Im Grunde wollte ich gar nicht wissen, warum sie mich angelogen
hat. Hätte ich gesehen, dass sie ihre Freundin besucht, hätte ich mich gefühlt
wie ein Betrüger. So wie ich ein Recht auf ihre Treue habe, hat Barbara das
Recht auf einen Mann, der ihr vertraut.«
Sandra begriff, dass ihr älterer Kollege ihr etwas erzählt hatte,
was er wahrscheinlich noch niemand anderem anvertraut hatte. Das gab ihr den
Mut, ihm auch noch den Rest zu erzählen.
»De Michelis, ich muss dich um einen weiteren Gefallen bitten …«
»Was denn jetzt noch?«, fragte er mit gespielter Entrüstung.
»Gestern Abend hat mich ein gewisser Schalber von Interpol
angerufen. Er glaubt, dass David in dunkle Machenschaften verstrickt war, und
scheint mir ein ziemliches Arschloch zu sein.«
»Verstehe, ich werde mich über ihn schlaumachen. Ist das alles?«
»Ja. Danke!«, sagte Sandra erleichtert.
De Michelis war aber noch nicht fertig. »Bitte verrate mir
Folgendes: Wohin fährst du jetzt?«
Dorthin, wo alles zu Ende ging, hätte Sandra gern gesagt. »Zu dem
Rohbau, von dem David gestürzt ist.«
Die Idee, zusammenzuziehen, stammte von ihr, aber David
hatte sofort eingewilligt. Das war zumindest ihr Eindruck gewesen. Sie kannten
sich erst wenige Monate, und noch wusste sie nicht genau, wie sie den Mann, den
sie liebte, einschätzen sollte. Manchmal war er ganz schön kompliziert. Im
Gegensatz zu ihr zeigte David seine Gefühle nur selten. Wenn sie Streit hatten,
war immer sie diejenige, die laut wurde und sich aufregte. Er gab sich vage
versöhnlich, wirkte aber vor allem geistesabwesend. Man konnte fast sagen, dass
er sich aus dem Streit heraushielt. Dabei musste Sandra sich eingestehen,
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