Der Seelensammler
sich nie mehr mit dieser Erklärung zufriedengeben
können, sondern nach der Wahrheit suchen müssen. Mit dem Risiko, sie niemals zu
finden.
Irgendwann überwand sie schließlich ihr Zögern. Sie setzte das Gerät
in Gang und wartete.
Zweimaliges Husten – bestimmt das Signal, mit dem die Aufnahme
gestartet wurde. Dann Davids dumpfe Stimme aus der Ferne, die von einem
Knistern übertönt wurde. Sie war nur teilweise zu verstehen.
»… dass wir allein sind … Seit damals habe ich auf diesen Moment
gewartet …«
Der Tonfall war ruhig. Trotzdem fand Sandra es unheimlich, nach so
langer Zeit seine Stimme zu hören. Sie hatte sich schon damit abgefunden, dass
er nie wieder zu ihr sprechen würde. Jetzt befürchtete sie, von ihren Gefühlen
übermannt zu werden, dabei musste sie einen klaren Kopf behalten. Sie zwang
sich zur Ruhe, schärfte sich ein, dass sie gerade eine Ermittlung durchführte
und professionell vorgehen musste.
»… das kann nicht sein … Das hätte ich mir eigentlich denken können … eine Enttäuschung …«
Die Sätze waren viel zu bruchstückhaft, um verstehen zu können,
worum es ging.
»… ich bin auf dem Laufenden … all das … die ganze Zeit … das kann
nicht sein …«
Für Sandra ergaben diese Satzfetzen keinerlei Sinn. Dann kam ein
vollständiger Satz:
»… ich habe lange nach ihm gesucht, aber am Ende habe ich ihn
gefunden.«
Worüber sprach David und mit wem? Sie verstand nicht.
Sie überlegte, die Aufnahme einem Tontechniker zu geben, damit er
das Knistern herausfilterte. Eine andere Möglichkeit sah sie nicht. Sie wollte
das Gerät gerade ausschalten, als sie eine andere Stimme hörte.
»… Ja, ich bin es …«
Sandra spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam. Jetzt hatte sie den
Beweis: David war nicht allein gewesen. Und er hatte das Gespräch aufgenommen.
Warum?
Was folgte, waren nur noch ein paar aufgeregte Sätze. Aus
irgendeinem Grund war auf einmal alles anders. Jetzt hörte sie auch Angst in
der Stimme ihres Mannes.
»… warte … Aber das ist doch nicht möglich … Ich dachte wirklich …
Ich werde nie … Ich werde tun, was ich kann … Nein … nein … nein! …«
Körper, die zusammenprallen und über den Boden rollen.
»… warte … Warte! … Warte! …«
Und dann ein entsetzlicher, verzweifelter Schrei, der sich immer
mehr entfernte und schließlich verstummte.
Sandra fiel das Aufnahmegerät aus der Hand. Sie stützte sich mit
beiden Händen am Zement ab. Vom Brechreiz geschüttelt, musste sie sich ein-,
zweimal übergeben.
David war ermordet worden. Jemand hatte ihn in die Tiefe gestoßen.
Sandra hätte am liebsten geschrien. Wäre sie doch nie hergekommen!
Hätte sie doch David niemals kennengelernt! Ihn niemals geliebt! So furchtbar
dieser Gedanke auch war, er entsprach der Wahrheit.
Schritte, die näher kommen.
Sandra drehte sich zu dem Aufnahmegerät um. Es forderte nach wie vor
ihre Aufmerksamkeit. Der Mörder schien zu wissen, wo das Aufnahmegerät
versteckt war.
Die Schritte verstummten.
Nach einigen Sekunden war erneut diese Stimme zu hören. Aber diesmal
sprach sie nicht. Sie sang.
»Heaven, I’m in Heaven,
And my heart beats so that I can hardly speak;
And I seem to find the happiness I seek
When we’re out together dancing, cheek to cheek.«
15 Uhr
Die Via delle Comete lag am Stadtrand. Marcus brauchte
eine Weile, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu gelangen. Der Bus
setzte ihn ganz in der Nähe ab, die restlichen zweihundert Meter ging er zu
Fuß. Um ihn herum gab es nichts als Wiesen, gewerbliche Gebäude und sozialen
Wohnungsbau. Die Häuser waren ein Stück weit voneinander abgesetzt und bildeten
Inseln aus Zement. In ihrer Mitte ragte eine modernistische Kirche auf, die so
gar nichts mit den prächtigen jahrhundertealten Gotteshäusern in der Altstadt
gemein hatte. Mehrspurige Straßen bündelten den Verkehr, der von Ampeln
effizient kontrolliert wurde.
Die Nummer 19 war eine verlassen wirkende Fabrik. Bevor Marcus sie
betrat, um zu erfahren, was sich hinter der Adresse verbarg, die auf dem Blatt
mit dem Dreieckssymbol aus Ranieris Büro gestanden hatte, hielt er kurz an, um
die Lage zu peilen. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Auf der anderen
Straßenseite lag eine Tankstelle mit Autowaschanlage und Bar. Die Kunden kamen
und gingen, niemand schien sich für die Fabrik zu interessieren. Marcus
schlenderte langsam zu der Tankstelle hinüber und tat so, als wartete er
Weitere Kostenlose Bücher