Der Seelensammler
römischen Kollegen Sandra den Unfallhergang geschildert
hatten, hatte sie die sich aufdrängenden Fragen zunächst verdrängt. Ob er die
ganze Zeit über bei Bewusstsein gewesen war, beispielsweise. Oder ob David noch
zu retten gewesen wäre, wenn man ihn früher gefunden hätte.
Der lange Todeskampf sprach für die Unfallthese, denn ein Mörder
hätte seinen Job bestimmt zu Ende gebracht.
Auf der rechten Seite entdeckte Sandra die Treppe, die nach oben
führte. Sie ließ ihr Gepäck stehen und stieg hinauf. Vorsichtig, da es kein
Geländer gab. Im fünften Stock fehlten sämtliche Zwischenwände. Es gab nur
Pfeiler, die das Dachgeschoss stützten. Sie näherte sich der Brüstung, über die
David gestürzt war, und rief sich Schalbers Worte vom Vorabend ins Gedächtnis.
»Glaubt man der Polizei, hat sich Herr Leoni in diesem Rohbau
aufgehalten, weil er von dort aus etwas fotografieren wollte … Kennen Sie den
Ort?«
»Nein«, hatte sie gereizt gesagt.
»Nun, ich bin dort gewesen.«
»Und was wollen Sie mir damit sagen?«
Daraufhin hatte er nur ironisch bemerkt: »Die Canon Ihres Mannes
ging bei dem Sturz zu Bruch. Zu schade, dass wir sein letztes Foto niemals zu
sehen bekommen werden!«
Als Sandra nun sah, was David in jener Nacht gesehen hatte, verstand
sie den Zynismus des Interpolbeamten. Es handelte sich um eine riesige
asphaltierte Fläche, die von mehreren Gebäuden umgeben war. Was hatte er hier
fotografieren wollen? Und noch dazu bei Dunkelheit!
Sie hatte eines der fünf Leica-Fotos mitgenommen, und sie hatte sich
nicht getäuscht: Es zeigte die Baustelle bei Tag. Nachdem sie es entwickelt
hatte, hatte sie sofort angenommen, dass es bei einer Ortsbegehung aufgenommen
worden war.
Sandra sah sich um. Sie musste einen neuen Zugang finden, ihre
Aufmerksamkeit umlenken, wie ihr Ausbilder bei der Polizei immer gesagt hatte.
Die Wahrheit steckt im Detail, murmelte sie vor sich hin.
In den Details musste sie nach einer Antwort auf ihre Fragen suchen.
Also ging sie genauso vor wie an den Tatorten, die sie mit ihrer Kamera
dokumentierte: von unten nach oben. Vom Allgemeinen zum Besonderen. Als
Vergleichsmaterial diente ihr das Foto, das David mit der Leica aufgenommen
hatte.
Ich muss sämtliche Details überprüfen, die auf dem Foto zu sehen
sind, dachte sie. So wie bei diesen Fehlersuchbildern.
Sie begann mit dem Boden und arbeitete sich dann meterweise
vorwärts. Sie richtete ihren Blick auf das, was sie direkt vor der Nase hatte,
und schließlich zur Decke. Sie suchte nach einer Botschaft, nach etwas, das in
den Zement geritzt war. Doch da war nichts.
Sie musterte den Pfeilerwald, nahm sich eine Säule nach der anderen
vor. Einige hatten in den letzten Monaten leichte Schäden davongetragen, was
aber durchaus daran liegen konnte, dass sie noch unverputzt der Witterung
ausgesetzt gewesen waren.
Als sie neben der äußersten linken Säule unweit der Brüstung stand,
merkte sie, dass sie anders aussah als auf dem Foto. Es war nur ein winziges
Detail, aber vielleicht war es wichtig: Als David die Ortsbegehung vorgenommen
hatte, hatte der Pfeiler an der Basis einen horizontalen Zwischenraum aufgewiesen.
Jetzt war er geschlossen.
Sandra beugte sich vor, um die Stelle näher zu betrachten. Etwas
daran störte sie: ein Gipsstreifen, der aussah, als hätte man ihn extra dort
angebracht, um etwas darunter zu verstecken. Sandra entfernte ihn, und was sie
dann sah, verschlug ihr die Sprache.
In der Öffnung steckte Davids Aufnahmegerät. Das Gerät, das sie in
seinem Seesack vermisst hatte, obwohl es auf der Merkliste stand. Sandra zog es
hervor und blies den Staub weg. Es maß zehn mal zwanzig Zentimeter, war flach
und hatte einen Digitalspeicher. Diese Modelle hatten die alten Geräte mit
Magnetband verdrängt.
Sandra musterte es und merkte, dass sie Angst hatte. Welches
Geheimnis verbarg sich darin? Gut möglich, dass David selbst es hier versteckt
und das Versteck sicherheitshalber fotografisch festgehalten hatte. Als er
zurückgekehrt war, um es zu holen, war er von dem Gebäude gestürzt. Hatte er
hier, an diesem Ort, etwas mit dem Gerät aufgenommen? Vielleicht an dem Abend,
an dem er gestorben war. Sandra fiel ein, dass man das Gerät auch aus der Ferne
bedienen konnte. Ein Signal genügte, um es anspringen zu lassen.
Sie musste eine Entscheidung fällen, durfte sie nicht mehr länger
hinauszögern. Doch was, wenn das, was sie gleich hören würde, die Unfallthese
erschütterte? Dann würde sie
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