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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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trotzdem war die Leiche noch gut erhalten. Marcus konnte das
Alter des Opfers nicht genau bestimmen, war sich aber sicher, dass es noch jung
war. Es wies tiefe Stichwunden in der Brust auf und weitere in der Schamregion – wahrscheinlich stammten sie von einer Blankwaffe.
    Von einer Schere.
    Endlich hörte Marcus auf zu graben. Er ließ sich rücklings zu Boden
fallen, betrachtete diese obszöne Zurschaustellung von Tod und Gewalt und rang
mühsam nach Luft.
    Er bekreuzigte sich, faltete die Hände und begann, für die
Unbekannte zu beten. Er konnte sich ihre Mädchenträume vorstellen, ihre
Lebensfreude. In ihrem Alter hätte der Tod noch in weiter Ferne liegen, ja,
etwas sein müssen, das andere anging, aber nicht sie. Marcus flehte Gott an,
sich dieser Seele zu erbarmen, allerdings ohne zu wissen, ob er erhört würde
oder nur Selbstgespräche führte. Die traurige Wahrheit war, dass die Amnesie
ihm nicht nur seine Erinnerungen, sondern auch seinen Glauben geraubt hatte. Er
wusste nicht mehr, was ein Geistlicher zu empfinden hatte. Trotzdem hatte das
Gebet für diese arme Seele die Kraft, ihn zu trösten. Denn die Vorstellung,
dass es einen Gott gab, war momentan sein einziger Trost im Angesicht des
Bösen.
    Marcus wusste nicht, wie lange die Frau schon tot war. Aber allzu
lange konnte das bei diesem Fundort und bei dem Zustand der Leiche noch nicht
sein. Was bewies, dass Nicola Costa nicht Figaro war, denn zum Zeitpunkt des
Mordes hatte der Mann mit der Hasenscharte längst im Gefängnis gesessen. Diese
Frau hat ein anderer auf dem Gewissen!, dachte Marcus.
    Es gab Menschen, die es manchmal nach menschlichem Blut dürstete.
Dann gaben sie einem uralten Raubtierinstinkt nach, einem Relikt des Kampfes zu
überleben. Einem fernen Echo des archaischen Bedürfnisses zu töten, das im Lauf
der Evolution verloren gegangen war. Das war der Grund, warum der Serientäter
beim Mord an Giorgia Noni eine neue Leidenschaft entdeckt hatte: eine, die in
ihm angelegt war, ohne dass er davon gewusst hatte.
    Marcus war sich sicher, dass er wieder zuschlagen würde.
    Die Leitung war frei. Marcus ließ es durchläuten und
hoffte, dass bald jemand drangehen würde. Er befand sich in einer der
Stafettenwohnungen, unweit des Parks Villa Glori.
    Endlich hörte Marcus die Stimme des alten Zini.
    » Pronto …«
    »Es ist genau so, wie ich vermutet habe!«, stieß er hervor.
    Der Polizist murmelte etwas Unverständliches und fragte dann: »Seit
wann ist sie tot?«
    »Seit etwa einem Monat. Genauer kann ich es nicht sagen, ich bin
kein Gerichtsmediziner.«
    Zini ließ die Nachricht auf sich wirken. »Wenn er sich diesmal die
Mühe gemacht hat, das Opfer zu verbergen, wird er bald wieder zuschlagen. Ich
werde die Sache melden müssen.«
    »Versuchen wir lieber, erst mal selbst daraus schlau zu werden.«
Marcus hätte Zini gern alles erzählt, was er wusste, ihm seine Sorgen
anvertraut. Doch was sie da entdeckt hatten, stellte auch keine Gerechtigkeit
her. Wer auch immer Zini die anonyme Mail geschickt und die Schaufel im Park
hinterlegt hatte, um die Stelle, an der gegraben werden musste, zu markieren,
wollte Federico Noni Gelegenheit geben, sich zu rächen. Oder einer der drei
Frauen, die vor dem Mord an Giorgia attackiert worden waren. Marcus spürte,
dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
    Sollten sie die Polizei informieren, damit die Kontakt zu den
anderen Opfern aufnahm und das Schlimmste verhinderte? Er war sich sicher, dass
inzwischen jemand dem echten Figaro auf der Spur war. »Eines muss ich noch
wissen, Zini: Der erste Teil der Nachricht, die du bekommen hast … ›Er ist
nicht so wie du‹ – was hat das zu bedeuten?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
    »Das nehme ich dir nicht ab!«
    Der blinde Polizist dachte kurz nach. »Na gut, komm heute Abend bei
mir vorbei.«
    »Nein, jetzt!«
    »Jetzt geht es nicht.« Gleich darauf wandte sich Zini an jemanden,
der bei ihm zu Besuch war. »Schenken Sie sich ruhig Tee ein, ich bin gleich
wieder da.«
    »Wer ist bei dir?«
    Zini begann zu flüstern. »Eine Polizistin. Sie will mir Fragen zu
Nicola Costa stellen, hat mir aber nicht die ganze Wahrheit gesagt.«
    Die Sache wurde immer komplizierter. Wer war diese Frau? Woher
dieses plötzliche Interesse an einem Fall, der scheinbar abgeschlossen war? Was
ging hier vor?
    »Werd sie los!«
    »Ich glaube, sie weiß so einiges.«
    »Dann versuch, den wahren Grund für ihren Besuch herauszufinden.«
    »Ich weiß nicht, ob du damit

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