Der Seelensammler
haben ja keine Ahnung, wie es mir ging, nachdem ich mit dem
Kopf auf den Boden geknallt war!«, erwiderte Federico Noni verbittert.
»Das stimmt, bitte entschuldigen Sie.« Aber Schalber klang nach wie
vor nicht sehr überzeugt und ließ Skepsis durchschimmern. Er warf wieder einen
Blick auf seinen Notizblock und machte einen Vermerk. Doch in Wahrheit wartete
er nur darauf, dass der Junge nach dem Köder schnappte, den er ihm hingeworfen
hatte.
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Gar nichts, erzählen Sie weiter!«, sagte Schalber und schien
ungeduldig.
»Als der Mörder die Polizeisirene hörte, ist er geflohen.«
»Und Sie haben Nicola an der Stimme erkannt, nicht wahr?«
»Genau.«
»Sie haben ausgesagt, der Mörder habe einen Sprachfehler gehabt, was
perfekt zu seiner Gaumenmissbildung passte.«
»Ja und?«
»Anfangs haben Sie den Sprachfehler für einen slawischen Akzent
gehalten.«
»Das war eine Vermutung der Polizei, ich habe nur gesagt, dass es
sein kann!« Schalber hatte Noni in die Defensive gedrängt.
»Nun gut, auf Wiedersehen.« Schalber hielt dem jungen Mann die Hand
hin und machte Anstalten, zu gehen.
»Warten Sie noch einen Moment!«
»Signor Noni, ich habe keine Zeit zu verlieren. Es hat keinen Sinn
zu bleiben, wenn Sie uns nicht die Wahrheit sagen.«
»Was meinen Sie damit?«
Sandra sah, dass der junge Mann völlig verwirrt war. Sie begriff
nicht, welches Spiel der Interpolbeamte spielte, wagte es aber, sich
einzumischen. »Vielleicht sollten wir wirklich lieber gehen.«
Schalber ignorierte sie erneut, baute sich direkt vor Noni auf und
griff ihn mit seinen Worten nun gezielt an: »In Wahrheit haben Sie nur Giorgias
Stimme und nicht die des Angreifers gehört. Und deshalb weder einen slawischen
Akzent noch einen Sprachfehler feststellen können.«
»Das stimmt nicht!«
»In Wahrheit hätten Sie Ihre Schwester durchaus retten können, wenn
Sie sich nur die Stufen hochgezogen hätten! Sie waren Sportler, und Sie hätten
das geschafft.«
»Das stimmt nicht.«
»In Wahrheit sind Sie einfach hier unten geblieben, während sich
dieses Monster oben amüsiert hat.«
»Das stimmt nicht!«, brüllte Federico Noni unter Tränen.
Sandra stand auf, packte Schalber am Arm und versuchte, ihn mit sich
fortzuziehen. »Es reicht. Lass ihn in Ruhe!«
Doch Schalber ließ nicht locker. »Warum erzählen Sie uns nicht, wie
es wirklich war? Warum Sie Giorgia nicht zur Hilfe gekommen sind?«
»Ich, ich …«
»Was? Na los, seien Sie doch endlich ein Mann!«
»Ich … ich«, stammelte Federico Noni unter Tränen. »Ich, ich wollte
nicht, dass …«
Schalber bohrte erbarmungslos weiter. »Los, seien Sie nicht so feige
wie an jenem Abend!«
»Schalber, ich bitte dich!« Sandra versuchte erneut, ihn zur
Vernunft zu bringen.
»Ich … hatte Angst.«
Plötzlich kehrte Stille ein, die nur durch das Schluchzen des jungen
Mannes unterbrochen wurde. Endlich hörte Schalber auf, ihn zu quälen. Er wandte
ihm den Rücken zu und ging zur Tür. Bevor Sandra ihm folgte, warf sie noch
einen letzten Blick auf den schluchzenden Federico Noni, der auf seine
gelähmten Beine starrte. Sie hätte ihn gern getröstet, brachte aber kein Wort
heraus.
»Was Ihnen widerfahren ist, tut mir leid, Signor Noni«, sagte
Schalber im Hinausgehen. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Als Schalber zum Wagen eilte, holte Sandra ihn ein und
zwang ihn, stehen zu bleiben.
»Was ist nur in dich gefahren? Du hättest ihn nicht so grob
behandeln müssen!«
»Auch wenn dir meine Methoden nicht passen: Misch dich bitte nicht
in meine Arbeit ein!«
Eine derartige Respektlosigkeit durfte sie auf keinen Fall zulassen.
»So lasse ich mich nicht behandeln!«
»Ich habe dir bereits gesagt, wie sehr ich Lügner verachte!«
»Und du? Warst du vielleicht ehrlich?«, fragte sie und zeigte auf
das Haus hinter ihnen. »Wie viele Lügen hast du denn erzählt, als wir da drin
waren?«
»Der Zweck heiligt die Mittel – schon mal gehört?« Schalber steckte
eine Hand in die Tasche, holte eine Packung Kaugummis hervor und steckte sich
einen davon in den Mund.
»Und was soll es für einen Zweck haben, einen Querschnittsgelähmten
so zu quälen?«
Schalber breitete die Arme aus: »Hör mal, es tut mir leid, dass das
Schicksal Federico Noni so übel mitgespielt hat. Natürlich hat er das alles
nicht verdient. Aber jedem von uns kann etwas Schlimmes zustoßen, und das
entbindet uns nicht von der Verantwortung anderen gegenüber.
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