Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Das passiert jedem mal. Ein Blackout. Ganz normal.»
Kapitel 23
Es war nicht normal. In den nächsten zwei Tagen passierte es immer wieder – Hellen fiel etwas nicht ein, sie vergaß eine Verabredung mit der Frau des Pastors, sie wußte plötzlich nicht mehr, welcher Tag war. Sie geriet in Panik. Andere hätten versucht, es zu verbergen, die Zustände der Verwirrung für sich zu behalten und mit sich selbst auszumachen. Doch Hellen in ihrer geradlinigen Art ging zu Jon und erzählte ihm davon. Er machte sich Sorgen und schlug vor, sie solle sich untersuchen lassen. Nicht von ihm, sondern in einer Klinik.
«So ernst, glaubst du? Neurologie?»
«Es ist besser, ja.»
Sie fuhren nach Kiel. Zwei Nächte und drei Tage blieb sie im Krankenhaus. Jon wollte bei ihr bleiben. Hellen aber bestand darauf, daß er nach Luisendorf zurückfahren und ganz normal, business as usual , wie sie sagte, weitermachen solle: «Deine Patienten brauchen dich, und Philip braucht dich auch.»
«Du kommst klar?»
«Ich kann atmen. Also komme ich auch klar!» erklärte sie fest.
Das Ergebnis, das der untersuchende Professor – ein alter Bekannter aus Hamburger Zeiten – Jon mitteilte, war niederschmetternd: Hellen hatte einen Tumor, der bereits Metastasen im Gehirn gebildet hatte. Sie war unheilbar krank.
Jon wurde bleich, als er es erfuhr. Er stand am Fenster des Besprechungszimmers seines Kollegen im ersten Stock des Krankenhauses und sah auf den Park hinaus, in dem Menschen auf Bänken in der Sonne saßen. Das Laub der Bäume war bunt verfärbt. Es war ein freundlicher Tag.
«Wie lange?» fragte Jon.
Der Professor zuckte mit den Achseln.
«Verstehe», sagte Jon.
«Du bist selbst Arzt. Was soll ich dazu sagen. Du begreifst doch, was die Diagnose bedeutet.» Er trat zu seinem alten Freund ans Fenster und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie war schwer wie Blei. «Ich glaube, es ist nicht einmal sinnvoll, es ihr zu sagen.»
«Du kennst Hellen nicht.»
«Soll ich es ihr sagen, Jon?»
«Nein, das mache ich. Sie ist draußen im Park. Ich gehe jetzt runter.»
Er drehte sich um und sah den Professor an. «Scheiße», murmelte er, «Scheiße ...»
«Wir werden es ihr hier so leicht wie möglich machen, wir ...»
«Hier?» Jons Stimme wurde laut. «Du denkst, ich lasse sie hier? Nein! Ich nehme sie mit. Mit nach Hause.»
Das Gespräch mit seiner Frau war leichter, als er dachte. Es schien ihm, als wisse sie längst alles. Jon brauchte nicht viele Worte zu machen. Er hatte sich auf dem Weg nach unten, hinaus in den Park unablässig Sätze überlegt, Dinge, die er ihr sagen wollte, butterweiche Erklärungen, tröstende Worte, beruhigende Gesten. Ausflüchte. Lügen. Doch als er auf sie zuging und sie ansah, wie sie dort stand, aufrecht, mit einem kämpferischen Ausdruck in den Augen, und kalt sagte: «Krebs?», da nickte er nur. Sie umarmten sich, und es kam ihm vor, als tröste sie ihn, nicht er sie.
Auf der Fahrt zurück nach Luisendorf sprachen sie kaum etwas. Sein Kollege hatte ihm diverse Instruktionen gegeben. Hellen hatte keine Schmerzen. Seltsam: Es ging ihr gut. Zu Hause angekommen, erklärten sie Philip gemeinsam, daß sie krank sei und Ruhe brauche. Der Junge war verständnisvoll und bot an, daß er sich um das Saubermachen und Kochen kümmern könne, solange seine Mutter im Bett liege. Seine Eltern waren gerührt. Hellen zog sich ins Schlafzimmer zurück, Jon brachte ihr einen Tee. Dann machte er sich daran, alles, was jetzt notwendig war, zu arrangieren. Er rief einen Kollegen an und bat ihn, seinen Dienst zu übernehmen. An die Tür des Hauses hängte er ein Schild, auf dem stand, daß die Praxis geschlossen sei und wer die Vertretung übernehme.
Zu seinem Vater ging er als nächstes. Es war früher Nachmittag, als er ihn im Klassenzimmer aufsuchte. Auf dem Platz vor dem Schulgebäude lärmten, wie meistens um diese Zeit, ein paar Kinder, die dort spielten. Die Flügel eines Fensters waren weit geöffnet, das Lachen, Kreischen und Rufen drang in den Raum, hallte dort wider und gab ihm etwas Kaltes, Leeres, Blechernes.
Richard Rix war damit beschäftigt, Arbeiten zu korrigieren. Er saß weit vornübergebeugt, eine altmodische Brille auf der Nase, und malte mit einem roten Kugelschreiber wild in den Schulheften herum. Jon war leise hereingekommen, er hatte noch immer nicht die Angewohnheit ablegen können, sich wie ein Störenfried zu fühlen, wenn er seinen Vater bei der Arbeit sah. Die grüne Schultafel mit ihren
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