Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
wollte, wenn hier alles bezahlt ist, mit dir noch mal los, wir sind doch bisher nie verreist ... Du hast immer von Indien gesprochen, das müssen wir uns doch noch ansehen. Und was ist mit Amerika? New York? Ich weiß, die Amerikaner magst du nicht besonders, aber es ist ein schönes Land, und es gibt viel zu sehen. Viel zu sehen, Hellen. Geh noch nicht, bitte, laß mich nicht allein, bleib bei mir, bleib bei uns ... Philip und ich, wir sind doch so blöde Jungs, wir ...» Er hielt inne. «Verrückt!» sagte er zu sich selbst. «Hör dich nur reden.»
Er ging in die Küche, goß sich ein halbes Glas mit Whiskey ein und trank es in einem Zug leer. Er trank nie viel, und eigentlich nur Wein, und der Alkohol, in Verbindung mit Jons Erschöpfung und Anspannung, wirkte schnell und stark. Er holte die Stereoanlage aus dem Wohnzimmer, schleppte sie ins Schlafzimmer, legte ihren Song auf und drehte die Musik so laut es ging. «Killing me softly ...», sang Roberta Flack, bei diesem Lied hatten sie sich in der Diskothek geküßt. Als einen «Sexualschleicher» hatte Hellen den Hit früher, in glücklichen Zeiten, als sie viel miteinander lachten, bezeichnet. «... killing me softly with your love ...» Die weiche Melodie, die sanfte Stimme erreichten Hellen nicht mehr. Sie lag da wie im Koma.
Jon drehte die Lautstärke herunter und spielte World von den Bee Gees: «Now I found that the world is round ...», Jon saß auf dem Bett und summte leise mit, «and the cause it rains every day ...»
«Hellen», flüsterte er, «mach die Augen auf, sag mir etwas, irgend etwas, gib mir ein Zeichen, was soll ich tun, schenk mir ein Lächeln, eine Geste, bitte ... Hellen ... lach noch einmal, so wie früher.»
Er tanzte durch das Schlafzimmer, zu Procol Harums A Whiter Shade of Pale, Otis Reddings Sitting on the Dock of the Bay – einen Titel nach dem anderen legte er auf, die ganzen sentimentalen Nummern, als wäre dies nicht ein Raum, in dem ein geliebter Mensch starb, sondern eine Diskothek, in der das Leben tanzte. When a Man Loves a Woman.
Sie wachte nicht mehr auf. Die Musik war verklungen. Es war drei Uhr morgens. Als sie noch jung gewesen waren, damals in Hamburg, waren sie um diese Zeit häufig erst nach Hause gekommen, im knatternden Käfer, und hatten sich im Auto geküßt. Sie besaßen nichts, keine Reichtümer, keine Erfolge, nicht einmal besondere Verdienste hatten sie erworben. Sie hatten nur sich und ihre Träume. Es waren die guten Zeiten gewesen, unbeschwert, wie Vögel im Wind, süß und rein, wie Honig und Milch. Sie waren vorbei. Jon war erwachsen geworden.
Er schlug die Decke mit Rosenmuster zurück und legte sich neben seine tote Frau, hielt sie im Arm, ohne zu weinen, bis es Morgen wurde. Die Vögel sangen nicht. Es war ein trüber, kühler, unfreundlicher Herbstmorgen. Jon stand auf, duschte und rasierte sich und brachte die Dinge auf den Weg, die zu erledigen waren.
Wie ein Lauffeuer hatte es sich schon am Vormittag in Luisendorf herumgesprochen, daß die Frau vom Doktor nicht mehr lebte. Johanna Kröger, die ihrer Beingeschichte wegen nicht richtig laufen konnte, hatte in der Diele auf der Telefonbank gesessen und alle Nachbarn informiert. Als der Pfarrer zu dem reetgedeckten Häuschen kam und die ersten Luisendorfer herbeieilten, um zu kondolieren, läuteten sie vergeblich an der Tür. Jon war nicht da.
Während Richard Rix, der seinen Unterricht abgesagt und die Kinder wieder nach Hause geschickt hatte, Philip erklärte, was geschehen war, saß Jon auf den großen Steinen am Ufer des Seerosenteiches und starrte aufs Wasser.
«Wenn ich erfahren würde, daß ich früh sterben müßte», hatte Hellen einmal zu ihm gesagt, bei einem Waldspaziergang vor ein paar Jahren, «dann wäre ich nicht besonders traurig darüber.»
Jon hatte sie, während sie Hand in Hand nebeneinander hergingen, erstaunt von der Seite angesehen. «Das glaube ich nicht. Nicht traurig! Hast du keine Angst vor dem Sterben?»
«Ach, irgendwie nicht. Ich meine, mir täte der Gedanke weh, daß ich euch zurücklassen würde, dich und Philip. Aber was mich angeht ... ich habe doch alles gehabt. Alles, was ich mir gewünscht habe. Ich glaube, daß man nur so lange Angst vor dem Sterben hat, wie man noch etwas will ... unzufrieden ist, noch Pläne hat, Dinge, die man auf dieser Welt erledigen muß ...»
«Das klingt ja entsetzlich abgeklärt. Also! Du erschreckst mich.»
«Aber nein! Ich will damit nur sagen, Jon, du müßtest nicht um
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