Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
aufklappbaren Wänden, die Kreidestummel in der Holzschale. Die Landkarte. Die beiden Schränke mit den Glastüren, in denen Bücher standen, Atlanten lagen, Schreibblöcke, Hefte, Papiere, Stifte. Die Schultische, bemalt, zerkratzt, mit Kaugummis an den Unterseiten, die Stühle dahinter, so klein wie in einer Puppenwelt. Es roch nach Holz, nach Leder, nach Schweiß, nach Äpfeln. Es roch nach Kirschenklauen, nach Kalle Blomquist und Strafarbeit, nach Negerküssen, nach Bonanza, nach erster Liebe. Es roch nach Wehmut. Noch immer übte das alles eine ungeheure Faszination auf Jon aus. Es war wie die Wiederbegegnung mit der längst verloren geglaubten Kinder- und Jugendzeit. In Wahrheit war sie noch immer da. So alt man auch wurde, man trug sie immer mit sich herum. Nicht nur als Erinnerung, sondern mehr noch als Gefühl: dem Gefühl von kleinen Sorgen, die morgen schon vergessen waren, von Problemen, die sich lösen ließen, das Gefühl von Aufbruch und Sehnsucht, von Albernheit und Fröhlichkeit, von Strenge und Angst.
«Vater?»
Richard Rix sah auf. Er lächelte. Das war früher nicht seine Art gewesen. «Junge!»
«Darf ich dich stören?»
«Aber sicher. Ich freue mich.» Er guckte auf seine Armbanduhr mit dem mürben, schwarzen Lederband. «Keinen Dienst heute?» Jon schüttelte den Kopf.
Auf dem Platz schrie gellend ein Mädchen, andere Stimmen fielen mit ein. Richard Rix sprang auf und rannte ans Fenster. «Jetzt ist da draußen aber Schluß!» brüllte er. «Sonst komme ich raus. Dann erlebt ihr was!» Augenblicklich wurde es ruhiger. Da war er wieder: sein Vater, der Despot. Der geliebte, gehaßte Despot. Er schloß das Fenster. «Man versteht ja sein eigenes Wort nicht! Als wenn die nicht woanders spielen könnten. Die Kinder in der Stadt würden sich über so viel Natur freuen, aber die hier, auf diesem staubigen, ollen Platz ...»
«Ach, laß sie doch.»
Richard Rix ging an seinen Schreibtisch zurück. «Ich lasse sie doch. Ich hab euch doch immer gelassen, oder?» Er nahm seine Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel.
«Ja ...» Jon setzte sich in die erste Reihe. Einen Moment rutschte er auf dem Stuhl hin und her. Sein Vater sah ihn an. «Irgendwas ist doch.»
Jon nickte und sah auf den zerschundenen Holzdielenboden, der voller schwarzer Striemen und Löcher und Flecken war. «Ich habe dich nie groß um was gebeten, Vater», begann er. «Aber jetzt mußt du etwas für mich tun.» Er hielt inne, hoffte plötzlich, er müsse nicht aussprechen, was er zu sagen hatte, sein Vater würde ihn auch so verstehen. Aber sein Vater runzelte nur die Stirn, lehnte sich ein wenig zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Das hatte er auch früher getan, meistens dann, wenn Jon etwas ausgefressen hatte und zur Beichte kam.
«Ich komme gerade aus Kiel. Ich war dort mit Hellen. Sie ist krank.» Er horchte seinen eigenen Worten nach.
«Krank?» Richard setzte die Brille wieder auf.
Jon nickte. «Todkrank.»
«Todkrank? Was heißt das?» Es klang fast ein wenig unfreundlich.
Schroff antwortete Jon: «Das heißt, daß sie vielleicht noch ein, zwei Wochen hat.»
Richard war fassungslos. Er mochte Hellen sehr. Jon erzählte ihm die ganze Geschichte. Sie verharrten eine Weile so und hingen ihren Gedanken nach. Beiden kam der Selbstmord von Hanna in den Sinn, die schmerzhafte Zeit nach ihrem Tod, Jons Ängste, Richards Unfähigkeit, mit allem umzugehen. Am liebsten wäre er jetzt aufgestanden, hinübergegangen zu seinem einzigen Sohn und hätte ihn in den Arm genommen. Aber er konnte es nicht. Zärtlichkeit zu zeigen gegenüber Jon, das hatte er nie fertiggebracht. «Was kann ich tun?» fragte er statt dessen.
«Ich will nicht, daß Philip das alles mitkriegt. Ich will ... ich möchte ... ich hätte gern, daß er bei dir bleiben kann. Bis ...» «Weiß er Bescheid?»
«Was willst du einem Zehnjährigen sagen? Wir haben ihm erklärt, sie sei krank. Mehr nicht.»
Richard stand auf. «Gut. Jaja ... Natürlich ... das mache ich ... gern.»
Jon erhob sich auch. Er kam sich auf einmal lächerlich vor auf diesem Stuhl. «Danke!»
«Wenn ich sonst noch etwas ...»
«Nein. Ich danke dir sehr, Vater.» Er ging zur Tür des Klassenzimmers und drehte sich dort kurz um. «Ich bringe ihn dir heute abend vorbei, ja?»
Richard nickte. «Grüß Hellen.»
«Ja.»
«Alles Gute, mein Sohn.»
Jon nickte noch einmal, dann verließ er die Schule.
In den folgenden Tagen kümmerte sich Richard Rix rührend um seinen
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