Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Enkel. Er war glücklich, das für Jon tun zu können. Ausflüge machte er mit Philip, spielte Fußball mit ihm, paukte mit ihm für Klassenarbeiten und ließ ihm dennoch alle Freiheiten, die der Junge brauchte und die er seinem eigenen Sohn, als der in diesem Alter gewesen war, so selten hatte zugestehen wollen. Täglich telefonierte er mit Jon, einmal sogar mit Hellen. Nachdem er mit seinem Sohn Rücksprache genommen hatte, versuchte er Philip so schonend wie möglich beizubringen, was passieren würde. Er besuchte mit ihm den Friedhof. Richard war kein sehr gläubiger Mensch. Aber er versuchte, so gut es ging, sich in die Psyche eines Kindes hineinzuversetzen. Er hielt nicht viel davon, um irgend etwas herumzureden. Philip, fand er, sei intelligent und habe einen starken Charakter. Er würde die Wahrheit vertragen. Und so war es. In einer seltsamen Mischung aus Herzlichkeit und Nüchternheit stellte er sich am Grab seiner Frau hinter Philip, umfaßte die Schultern seines Enkels und fing einfach an: «Manche Menschen sterben früher, andere später.»
«In der Schule haben sie gesagt, sie hat sich das Leben genommen! Stimmt das?» Philip zeigte auf den Grabstein aus weißem Marmor.
«Ja, das stimmt. Sie war müde, weißt du, krank. Sie wollte nicht mehr. Man sagt ... die Kirche sagt, es sei eine Sünde, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber ich denke: Es muß jedem selbst überlassen bleiben, na ja.»
Philip drehte sich um. «Mami ist auch sehr krank, nicht?»
Sein Großvater nickte. «Sie wird sehr bald auf eine große Reise gehen.»
«Was für eine Reise?»
«Das sagt man so, wenn ein Mensch stirbt. Eine große Reise. Wir wissen nicht wohin ... irgendwohin, wo es besser ist, friedlicher, schöner, verstehst du?»
Philip nickte. «Also stirbt sie?»
«Ja.»
«Das dachte ich mir schon. Kann ich ihr auf Wiedersehen sagen?»
«Ja. Wenn du willst – ja.»
«Aber ich möchte nicht, daß sie stirbt.»
Richard hockte sich vor seinem Enkelsohn in die Knie. «Ich möchte es auch nicht, mein Philip.»
«Aber Papi ist Arzt. Er kann allen helfen.»
«Manchmal können wir es nicht bestimmen. Manchmal liegt es
nicht in unserer Hand. Manchmal liegt es, nun, die Leute behaupten: in Gottes Hand.»
«Du glaubst nicht daran, stimmt's?»
Sein Großvater schüttelte langsam den Kopf.
«Papa glaubt an Gott.»
«Ich weiß.»
«Und ich glaube auch an den lieben Gott.»
«Das ist gut, Philip. Das ist gut so.»
Philips Abschied von seiner Mutter war weniger herzzerreißend, als Jon gefürchtet hatte. Hellen bekam jetzt starke Medikamente und schlief viel. In einem wachen Moment führte Jon seinen Sohn zu ihr, und sie sprachen ein wenig miteinander, wenige Sätze, denn jedes Wort fiel Hellen schwer.
«Wir gehen morgen zu den Schmetterlingen!» erklärte Philip. Zu den Schmetterlingen: Das war meistens hinten am Seerosenteich, wo Richard mit ihm stundenlang saß und die flatternden, bunten Insekten beobachtete und bestimmte.
Hellen sprach langsam. «Tu, was dein Vater dir sagt, ja? Bleib so brav.»
«Hmmm.»
Jon räusperte sich. «Wir lassen Mami jetzt schlafen.»
Philip drückte seiner Mutter einen Kuß auf den Mund. «Ich hab dich lieb.»
«Ich hab dich auch lieb.» Sie war zu schwach, ihn in den Arm zu nehmen.
«Philip!» mahnte Jon und zog ihn vom Bett weg.
«Auf Wiedersehen, Mami.»
«Auf Wiedersehen, Jon.»
Unten in der Halle ging Richard auf und ab und wartete auf Philip. Als Jon mit ihm die Treppe herunterkam, nahm er wortlos den Anorak seines Enkels vom Haken, zog ihm die Jacke über, nickte seinem Sohn zu und ging. Jon und Hellen waren wieder allein.
In der Zeit bis zum Ende schlief Jon kaum mehr als ein, zwei Stunden in der Nacht. Er versuchte, so gelassen, vernünftig und stark wie möglich zu sein, Hellen das Sterben so leicht wie möglich zu machen. Er versorgte sie mit Medikamenten, er kochte ihr Tees, er bereitete ihr etwas zu essen zu, solange es ging. Dann machte sie sich auf zu ihrer Reise. Es fing damit an, daß sie immer weniger sprach und immer mehr schlief. Schließlich hörte sie ganz auf zu reden. Hellen war stumm geworden. Jon saß stundenlang an ihrem Bett und hielt ihr die Hand. Manchmal sank er weg, dann träumte er wild, schreckte hoch, sah nach seiner Frau, fühlte ihren Puls, horchte nach dem schwachen Schlag ihres Herzens, prüfte, ob noch Leben in ihren Augen war.
Er fing an, mit ihr zu reden. «Ich hab noch soviel mit dir vor, weißt du? Wir sind doch erst am Anfang. Ich
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