Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
sich seinem Vater an den Hals. Hellen erschien in der Tür. «Er ist so aufgekratzt! Er war den ganzen Tag unterwegs ...», sie kam zu ihren beiden Männern und zwickte ihren Sohn, der auf Jons Schoß tobte und kreischte, in die Wade, «mit seinen Freunden.»
«So, und dein Papa war auch den ganzen Tag unterwegs», erklärte Jon ruhig, «und er liest dir jetzt ganz schnell noch was vor, und dann will er seine Ruhe haben, okay?»
«Okay.» Philip setzte sich in sein Bett.
Hellen schaltete die Deckenleuchte aus. Nun war nur noch die Nachttischlampe, deren Schirm Indianer und Cowboys schmückten, eingeschaltet. Sie strahlte heimeliges Licht aus. Philip knuffte seine Kissen, legte sich ins Bett und zog die Decke hoch bis unters Kinn. Seine Mutter machte es sich am Fußende bequem. Jon nahm das Buch vom Schreibtisch seines Sohnes. Es war das alte, abgegriffene Exemplar von Charles Dickens' Roman Oliver Twist, aus dem er schon damals immer seiner Schulfreundin Isabelle vorgelesen hatte. Philip hatte es vor ein paar Wochen in einer Kiste im Keller entdeckt und gefragt, ob er es haben dürfe. Der Einband, der den Helden mit Mütze, dickem kariertem Schal, gelbem Pullover und roter Hose zeigte, eingerahmt von seinen Rabaukenfreunden in einer Londoner Gasse, war eingerissen. Die Seiten hatten Eselsohren und Kakaoflecken. Der Zauber des Buches war ungebrochen.
«Wo waren wir?»
Wie aus der Pistole geschossen antwortete Philip: «Seite 218!» Hellen mußte lachen. Sie und ihr Mann sahen sich an.
«Woher weißt du das noch so genau?» fragte Jon. «Wir haben doch vergangene Woche zuletzt ...»
«Hab's mir gemerkt!» unterbrach ihn Philip grummelnd. «Nun lies doch endlich.»
«Dein Sohn ist genauso ein Pedant und Pingel wie du.»
«Zweiter Absatz!» erklärte Philip.
Jon zog eine Augenbraue hoch. Dann schlug er das Buch auf und begann, daraus vorzulesen: «Nach diesen Vorsichtsmaßnahmen faßte Herr Giles den Kesselflicker fest beim Arm, damit er nicht, wie er sich scherzhaft ausdrückte, davonliefe, und gab nun den Befehl zum Öffnen der Türe. Brittles gehorchte, und dabei schaute jeder dem andern ängstlich über die Schulter. Aber da war weit und breit nichts Schreckliches zu sehen, nur der arme kleine Oliver Twist lag da, erschöpft und keines Wortes fähig, und erhob die schweren Augenlider zu einer stummen Bitte um Mitleid.»
Die Messingglocke des Hauses läutete stürmisch. Jon hielt inne. «Und jetzt sag nicht: Erwartest du noch jemanden?» sagte Hellen und kam hoch. «Das sind deine Patienten. Aber mach nur weiter. Ich gehe schon!»
Sie verließ den Raum und ging durch den Flur und die Treppe hinunter. Es gab Tage, da haßte sie es, Arztfrau zu sein. Die Patienten respektierten keine Privatsphäre. Selbst wenn Jon keinen Dienst hatte, kamen sie vorbei, klingelten, tauchten im Garten auf, klopften ans Fenster und verlangten voller Selbstverständlichkeit, daß man ihnen half. Dabei ging es keineswegs immer um Notfälle. Im Gegenteil. Bevorzugt an Sonntagen oder an Feiertagen, wenn sie sich langweilten oder einander zu Hause auf die Nerven gingen, kamen sie zum Arzt, um sich abzulenken, um beachtet zu werden, um ihre Zipperlein umsorgt zu wissen. Hellen, von jeher zur Ungeduld neigend, bewunderte an Jon dessen Freundlichkeit und Gelassenheit in solchen Situationen.
Sie öffnete die Tür. Sie hatte nicht einmal Licht gemacht, weder in der Halle noch vor dem Haus. Draußen im Dunkel stand ein junger Mann, verschwitzt, nervös, mit wirren Haaren, hinter ihm eine offenbar gleichaltrige Frau.
«Entschuldigen Sie», sagte er aufgeregt, «wir sind unterwegs hier in der Gegend auf dem Weg nach Kiel, mit dem Auto ...»
«Ja?» fragte Hellen kühl.
«Ist der Herr Doktor da?»
«Der Herr Doktor ist da. Aber er hat keinen Dienst. Dienst hat in Albershude Dr. ...»
In diesem Moment trat die Frau vor, schob ihren Mann beiseite.
«Es ist soweit ...», sagte sie nur und lehnte sich schwer atmend gegen den Türrahmen. Hellen sah sie an. Die krausen Haare hatte sie mit Kämmen hochgesteckt, sie trug einen Männerpullover und eine dünne, fludderige Hose.
«Sie kriegt ein Kind!» rief der Mann aus.
Jetzt erst begriff Hellen. Daß sie es nicht gleich gemerkt hatte! Die Frau hatte einen gewaltigen Bauch.
Sie stöhnte auf. «Wir schaffen es nicht bis ins Krankenhaus, wir kennen uns nicht aus hier ...»
«Kommen Sie herein! Seien Sie ganz ruhig. Ich hole meinen Mann!» Hellen machte Licht und ließ die Fremden ins Haus.
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