Der Seewolf
und der Wellengang wurden immer stärker. Ich steuerte etwa eine Stunde, doch es wurde immer schwieriger. Ich hatte noch keine Übung bei Sturm.
»Gehen Sie rauf und versuchen Sie ein paar Boote zu orten. Wir haben mindestens schon zehn Knoten gemacht und machen jetzt zwölf oder dreizehn. Das alte Mädchen hält sich wacker.«
Als ich von hoch oben über die sturmgepeitschte See blickte, zweifelte ich, ob wir überhaupt ein einziges Boot finden würden. Wie sollte ein kleines, zerbrechliches Boot diesem Ansturm aus Wind und Wellen überstehen?
Dann durchschnitt die Ghost eine schwere Woge und die Steuerbordreling verschwand unter Wasser. Das Deck wurde bis zu den Luken von dem tobenden Ozean überspült. Entsetzt klammerte ich mich mit Händen und Füßen fest, ich verspürte Todesangst. Dann aber dachte ich an die Männer dort draußen und hielt angestrengt Ausschau.
Nach ungefähr einer Stunde entdeckte ich weit entfernt einen kleinen schwarzen Punkt, der gerade von schäumenden Wellen emporgeschleudert wurde und wieder verschwand. Kurze Zeit später tauchte der Punkt erneut auf. Mit Handzeichen gab ich Wolf Larsen zu verstehen, wie er den Kurs ändern sollte.
Der Punkt wurde rasch größer und ich merkte erst jetzt, wie schnell wir fuhren. Wolf Larsen winkte mich herunter. Dann erklärte er mir, wie ich beidrehen sollte.
»Machen Sie sich darauf gefasst, dass die Hölle losbricht«, warnte er. »Aber Sie kümmern sich nicht darum, Sie tun Ihre Arbeit. Köchlein soll die Fockschot übernehmen.«
Ich kämpfte mich nach vorn, sagte Thomas Mugridge, was er zu tun hatte, und kletterte in den vorderen Teil der Takelage. Wir waren dem Boot inzwischen ganz nah. Sie hatten Mast und Segel über Bord geworfen und benutzten sie als Seeanker, während sie sich treiben ließen. Die drei Insassen schöpften Wasser. Jede Woge ließ sie verschwinden und ich fieberte ihrem erneuten Auftauchen entgegen. Einmal stürzte das Boot vornüber in ein Wellental und das Heck ragte in die Luft. Wunderbarerweise tauchte es wieder auf.
Wolf Larsen änderte den Kurs um beizudrehen und ich sprang aufs Deck hinunter. Wir lagen jetzt vor dem Wind in der gleichen Höhe wie das Boot, da packte uns plötzlich eine Bö. Der Sturm sprang mich an, dass es mir fast den Atem nahm. Die Ghost neigte sich vornüber und eine ungeheure Wasserwand erhob sich hoch über meinem Kopf. Einen Herzschlag lang sah ich ihren grünlichen Schimmer und die weiße, schäumende Kante. Dann senkte sie sich herab.
Die Hölle brach los! Alles geschah gleichzeitig. Ein gewaltiger Schlag traf meinen ganzen Körper. Dann war ich unter Wasser, wurde hin und her geschleudert, Salzwasser drang in meine Lunge. Trotzdem hatte ich nur einen einzigen Gedanken: Ich musste den Klüver nach Luv bringen!
Plötzlich stieß ich mich heftig an etwas, bekam wieder Luft. Es gelang mir auf die Füße zu kommen. Der Klüver ...
Doch jetzt schien das Ende gekommen! Überall knirschte und krachte es, die Toppsegel gingen in Fetzen. Der schwere Baum wurde auf die Reling geschmettert und zersplitterte. Überall Trümmer. Dann krachte die Fockgaffel mitten in das Durcheinander.
Ich bemerkte Wolf Larsen, der mit seiner gewaltigen Kraft das Großsegel einholte. War vielleicht doch noch nicht alles verloren? Ich sprang an den Klüver. Ich zog! Ich zog unter Aufbietung all meiner Kräfte. Während mir das Blut unter den Nägeln herausspritzte, rissen Außenklüver und Stagsegel donnernd in Fetzen. Ich gab nicht auf.
Plötzlich ging es leichter, denn Wolf Larsen stand neben mir. Dann zog er allein weiter, damit ich das Segel festsetzen konnte.
»Beeilen Sie sich!«, brüllte er. »Kommen Sie mit.«
Während ich ihm folgte, sah ich verblüfft, dass die Ghost trotz allem noch seetüchtig war. Sie drehte bei.
Keine zwanzig Fuß entfernt hob sich das kleine Boot auf einer hohen Woge. Wolf Larsen hatte so gut kalkuliert, dass wir direkt darauf zutrieben. Jetzt brauchten wir nur noch die Taljen an beiden Enden einzuhaken, um das Boot an Bord zu holen. Doch es gab Schwierigkeiten.
Im Boot standen Kerfoot, Oofty-Oofty und Kelly. Jedes Mal, wenn es emporgehoben wurden, sackte die Ghost in ein Wellental und umgekehrt. Es war sehr gefährlich, denn der Schoner konnte jeden Moment auf das Boot geschleudert werden und es zerschmettern. Aber wir hatten Glück. Die Männer erwischten die Taue, die wir ihnen zuwarfen, und kletterten an Bord. Dann holten wir auch das Boot herauf.
Wolf Larsen erteilte neue
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