Der Seewolf
betrachten. Sie war in einen langen Mantel gehüllt, denn der Morgen war rau. Deshalb konnte ich nur ihr Gesicht sehen und eine Masse hellbraunen Haars, das unter ihrer Mütze hervorquoll. Ihre braunen Augen waren groß und strahlend, der Mund empfindsam und das Gesicht ein zartes Oval, obwohl es von Sonne und Wind verbrannt war.
Sie wirkte auf mich wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Ich sehnte mich nach ihr wie ein Verhungernder nach Brot. Seit ewigen Zeiten hatte ich keine Frau mehr gesehen. So stand ich staunend an der Reling und rührte mich nicht, während man den Ankömmlingen an Bord half. Als einer der Matrosen sie in Wolf Larsens ausgestreckte Arme hochhob, schaute sie in unsere neugierigen Gesichter und lächelte so süß, wie nur eine Frau lächeln kann. »Mr van Weyden!« Wolf Larsens Stimme riss mich aus meinen Träumen. »Bringen Sie die Dame bitte hinunter und sorgen Sie dafür, dass sie es bequem hat. Lassen Sie Köchlein die freie Kabine herrichten und kümmern Sie sich um ihr Gesicht. Es ist böse verbrannt!«
Er wandte sich den neuen Männern zu und stellte ihnen Fragen. Sie hatten die Kontrolle über das Boot verloren, was umso bedauerlicher war, da Yokohama gar nicht mehr weit weg lag.
Ich fühlte eine seltsame Scheu der Frau gegenüber, die ich nach unten begleitete. Nie zuvor war mir bewusst gewesen, wie zart, wie zerbrechlich ein weibliches Wesen ist. Während ich ihren Arm nahm, um ihr die Stufen hinunterzuhelfen, erschrak ich angesichts seiner Schmalheit und Weichheit.
»Machen Sie sich nicht solche Umstände«, bat sie, als ich Wolf Larsens Lehnstuhl für sie herbeischaffte. »Die Männer haben doch schon seit langem nach Land ausgeschaut, da werden wir wohl bis zum Abend dort sein, nicht wahr?«
Ihre Zuversicht erschreckte mich. Wie sollte ich ihr die Situation erklären? Ich hatte Monate gebraucht um zu begreifen, was sich auf diesem Schiff abspielte!
»Unter jedem beliebigen anderen Kapitän könnten wir morgen in Yokohama sein«, antwortete ich. »Unser Kapitän jedoch ist ein besonderer Fall. Seien Sie bitte auf alles gefasst - auf alles, verstehen Sie?«
»Ich ... ich muss gestehen, ich verstehe nicht recht«, erwiderte sie beunruhigt, aber nicht ängstlich. »Soviel ich weiß, werden Schiffbrüchige immer sehr zuvorkommend behandelt. Und es ist doch nicht weit bis zur Küste.«
»Ich möchte Sie nur auf das Schlimmste vorbereiten - damit Sie gewappnet sind, falls es eintrifft. Unser Kapitän ist ein Scheusal und man kann nie wissen, welche irrsinnige Tat er als Nächstes vollbringen wird.«
»Oh, ich verstehe.« Ihre Stimme klang schwach und müde. Sie stand kurz vor einem Zusammenbruch und deshalb stellte sie keine weiteren Fragen.
Ich veranlasste Thomas Mugridge, den freien Raum herzurichten. Dann bemühte ich mich nach Hausfrauenart, es unserem Gast gemütlich zu machen. Auch eine Salbe gegen Sonnenbrand besorgte ich sowie eine Flasche Portwein aus den Beständen des Kapitäns.
Inzwischen hatte der Wind zugenommen, und als die Kabine bereit war, flog unser Schiff über das Meer. Leach und Johnson hatte ich völlig vergessen, als plötzlich der Ruf »Boot ahoi« an mein Ohr drang. Diese Nachricht traf mich wie ein Donnerschlag und ich warf der Frau einen raschen Blick zu. Doch sie hatte offensichtlich nichts gehört, denn sie lehnte mit geschlossenen Augen in ihrem Stuhl und war unendlich erschöpft. Ich würde ihr weitere Aufregungen ersparen. Sie musste jetzt ruhen. Behutsam geleitete ich die halb Schlafende in ihre Kabine, wo sie auf ihre Koje sank und nicht mehr spürte, wie ich eine warme Decke über sie breitete.
Als ich an Deck kam, hatte sich die gesamte Besatzung dort eingefunden. Alle erwarteten, dass etwas passieren würde, wenn Leach und Johnson heraufgeholt wurden.
Louis erschien als Ablösung am Rad. Er hatte sein Ölzeug übergezogen, denn es sah nach Regen aus.
»Schlimm, dass wir sie sichten mussten«, sagte ich, während die Ghost von einigen hohen Wellen auf die Seite gedrückt wurde.
»Die Küste hätten sie sowieso nicht erreicht«, meinte Louis und drehte am Rad.
»Nicht?«
»Nein, Mr van Weyden, in der nächsten Stunde wird sich keine solche Eierschale über Wasser halten können. Sie haben Glück, dass wir sie rausfischen.«
Wolf Larsen, der mit den Geretteten gesprochen hatte, kam auf uns zu. Er bewegte sich wie ein Raubtier und seine Augen leuchteten.
»Drei Heizer und ein Maschinist«, verkündete er. »Aber wir werden schon
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