Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
Vom Netzwerk:
nackter brauner Fuß war zu sehen. Huy vergaß seine Leiden und beobachtete gespannt, wie erst das eine Bein und dann das andere folgte und schließlich die gesamte kleine Gestalt auftauchte, sich das verrutschte Kleid herunterzog und ihn mit zusammengekniffenen Augen anstarrte.
    Huy saß regungslos da und versuchte verzweifelt, dem fuchsartigen Gesicht, das ihm bekannt vorkam, einen Namen zuzuordnen. Sie kam offenbar aus einer einfachen Bauernfamilie. Die Sonne hatte ihrer Haut die Farbe von Baumrinde verliehen, und das Leinenkleid, das sie über ihre Knie zog, war grob und dick, der Saum abgewetzt und der Stoff schlaff vom vielen Waschen und mit alten Flecken übersät. Ungebändigtes schwarzes Haar stand von ihrem Kopf ab und verbarg ihre Schultern, doch von der Zartheit ihrer Züge konnte auch ihr Ungekämmtsein nicht ablenken. Ihre Augen waren groß und klar, und im Gegensatz zu den meisten Bauern hatte sie eine gerade schmale Nase wie eine Aristokratin. Der Mund darunter war breit und hatte schöne Linien, das Kinn war spitz wie ihr Ellbogen. Ihre Arme waren dünn und wahrscheinlich auch der Körper unter den hässlichen Falten des Gewands, vermutete Huy, als sie sich geschmeidig aufrichtete und auf ein Wort des Wiedererkennens wartete. Es blieb aus. Ihre Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen. Sie verschränkte die Arme und trat einen Schritt näher. Sie strahlte eine natürliche Bestimmtheit aus, ein Selbstbewusstsein, das Ungeduld und Stolz umfasste – und all dies war unvereinbar mit ihrer ärmlichen Erscheinung. Huy war fasziniert. Er kannte sie. Tief im Inneren hieß er sie mit einer Woge der Freude willkommen, doch die merkwürdige Kombination von edler Abstammung und Gewöhnlichkeit, die sie ausstrahlte, verwirrte ihn.
    »Du kannst dich nicht einmal an meinen Namen erinnern, Huy?« Ihre Stimme löste sowohl Erleichterung als auch Scham bei ihm aus. Sie befand sich in seinem Gedächtnis, war aber zugeschüttet von den schrecklichen Ereignissen der letzten Wochen. Dieses Gesicht und diese Stimme gehörten zu jenen, die er zuallererst hätte erkennen müssen, doch er konnte den Namen nicht an die Oberfläche bringen. Er schüttelte den Kopf. »Mutter hat gesagt, dass du ganz viel vergessen hast«, setzte sie scharf hinzu, »aber ich glaube, du willst mich nur ärgern. Vielleicht sollte ich dir eine runterhauen, damit der blöde Ausdruck aus deinem Gesicht verschwindet und du vernünftig wirst. Huy! Ich bin deine beste Freundin! Eine bessere als der Aristokrat Thutmosis, über den du ständig redest.«
    Sie kam rasch auf ihn zu, und diese Bewegung brachte die Fetzen in seinem Gedächtnis zusammen. Huy seufzte. »Ischat«, sagte er. »Du bist Ischat.«
    Sie schnalzte mit der Zunge. »Natürlich bin ich Ischat! Wer sonst würde sich mitten in der Nacht in dein Zimmer schleichen? Wenn Mutter das wüsste, würde ich die schlimmsten Prügel meines Lebens beziehen. Sie hat mir streng verboten, zu dir zu gehen, damit du mich nicht mit den scharfen Zähnen Sobeks anfallen und in Stücke reißen kannst.« Sie war am Bett angekommen und sah ihm streng ins Gesicht. »Du siehst schrecklich aus«, erklärte sie sachlich, »aber ich kann keinen Dämon in deinen Augen erkennen. Ist das wahr, was sie sagen? Ist das Wein in dem Krug?« Sie roch daran. »Kann ich etwas davon haben?«
    »Ja, ja und ja«, antworte Huy und musste unwillkürlich lächeln. »Es ist Palmwein. Ein armseliger Ersatz für den Mohn und nicht süß genug. Kennst du mich schon lange, Ischat?«
    Verwundert unterbrach sie das Eingießen und sah ihn von der Seite an. »Erst von Geburt an. Meine Mutter Hapsefa arbeitet hier im Haus und ich auch.« Sie füllte den Becher, nahm ihn in beide Hände und drehte sich wieder zu Huy herum. »Erinnerst du dich nur an meinen Namen, Huy? Weißt du nicht mehr, wie eng befreundet wir waren? Dass wir immer miteinander gespielt haben und du oft gemein zu mir warst? Dass ich dir einen wunderschönen goldenen Skarabäus geschenkt habe, den du mit in die Schule genommen hast?« Sie holte Luft und wollte weiterreden, doch Huy hielt sie eilig auf.
    »Warte«, befahl er. »Beweg dich nicht. Etwas steigt nach oben.« Er wagte nicht zu atmen, als die Erinnerung in den geheimnisvollen Nischen seines Gedächtnisses langsam Gestalt annahm. »Der Skarabäus! Ich erinnere mich! Alle Jungen waren neidisch, dass ich diesen Glücksbringer besaß.« Er schürzte die Lippen. »Aber er hat mir ja kein Glück gebracht, oder? Er hat

Weitere Kostenlose Bücher