Der Seher des Pharao
euch bei Osiris, bei Isis, der Beschützerin der Toten, bei ihrem heiligen Sohn, dem mächtigen Horus, der seine Flügel über Ägypten breitet, dass ich wirklich Huy, Sohn des Hapu bin und aus dieser Stadt komme«, sagte er laut. »Ich bin im Bezirk des Re-Tempels von Iunu mit solcher Gewalt angegriffen worden, dass ich in eine so tiefe Bewusstlosigkeit gefallen bin, als wäre ich tot. Mein Ka hatte sich von meinem Körper gelockert, aber fünf Tage Ruhe haben ihn wieder fest mit ihm verbunden. Bitte gebt mir einen Schurz, damit ich meine Blöße bedecken kann, und lasst mich nach Hause gehen.« Die Rede hatte ihn sehr angestrengt. Flecken erschienen vor seinen Augen. Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, jedem einzelnen von ihnen ins Gesicht zu sehen. Dort entdeckte er Zweifel, Zögern und vor allem Ungläubigkeit. Er konnte die Schwäche in seinen Beinen kaum überwinden, und so torkelte er zur nächsten Bahre, riss dem Toten das Leintuch weg, das über dessen Genitalien lag, wickelte es um seine eigenen und ging durch die offene Tür hinaus. Niemand hielt ihn auf, keiner rührte sich. Er kam in einen kleineren Raum, unfähig zu sehen, was sich dort befand, taumelte er weiter in einen ummauerten Hof. Die Tür, die hinausführte, war geschlossen. Huy wankte zu der Tür und fingerte daran herum. Er betete, dass sie nach außen aufging, denn er würde nicht mehr die Kraft aufbringen, sie nach innen zu ziehen. Er hatte Glück, sie schwang auf, und Huy fand sich auf Händen und Knien im Gras wieder.
Es war Nacht. Nicht weit entfernt zeichnete sich eine Baumgruppe vor dem sternenübersäten Himmel ab. Huy kroch weiter, bis er spürte, wie die Blätter über seinen Rücken strichen, dann brach er zusammen. Sein Körper krümmte sich, und ein nicht enden wollendes Geheul brach aus ihm heraus, ein unmenschlicher Schrei voller Qual, Verzweiflung und Verwirrung. Huy wusste nicht, wie lange er wie ein verwundeter Wolf geklagt hatte. Doch es war immer noch tiefe Nacht, als sich die Zweige über ihm teilten, zwei warme Hände nach ihm griffen und ihn herumdrehten. Kerzenlicht schien ihm ins Gesicht, dann folgte ein überraschtes Einatmen und ein gemurmeltes »Nein, das ist unmöglich«. Durch seine geschwollenen Lider erspähte Huy die Züge des Chenti-Cheti-Oberpriesters.
»Methen«, flüsterte er. »Bei der Liebe Res, hilf mir.« Und wieder versank der Boden unter ihm.
Diesmal erlangte er das Bewusstsein unter besseren Umständen zurück. Als Erstes war da ein Gefühl von Sicherheit wie in einem Kokon, dann kamen die schönen Geräusche von Normalität, die von weit draußen zu ihm drangen. Stimmen, Vogelzwitschern und, näher, das Gurgeln von Wasser, das ausgeschüttet wurde. Einen Moment lang schwamm er auf einer Woge undifferenzierten Wohlgefühls, doch dann schoss der Schmerz wieder in seinen Kopf, und Durst zwang ihn, die Augen zu öffnen.
Er lag auf der Seite und blickte in einen kleinen, weiß getünchten Raum. Gegenüber öffnete sich ein Durchgang zu einem Flur. Daneben stand eine große Truhe auf dem nackten Boden. Die Wand darüber war mit zahllosen Fröschen, Palmen, vielen Hieroglyphen und immer wieder den Zeichen für einen Namen bemalt. Huy. So heiße ich, überlegte er angestrengt. Habe ich die Sachen hier gemalt? Dicht vor ihm stand ein Tisch mit einer kleinen Götterstatue. Mit hämmerndem Kopf starrte Huy sie lange an, bis er erkannte, dass Chenti-Cheti ihn da beschützte. Wo hatte er diese Statuette schon gesehen? »Ich brauche Wasser«, flüsterte er.
Irgendwo hinter dem Bett bewegte sich etwas, leichte Schritte waren zu hören, und eine Frau beugte sich über ihn. Ihre Züge waren angespannt und die dunklen Augen gerötet, als hätte sie geweint. Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn, und in seine Nase drang Lilienduft. Er versuchte, das Parfüm und das Gesicht der Frau zur Deckung zu bringen, aber das war zu anstrengend. »Ich bin Huy«, flüsterte er wieder, »und ich bin sehr durstig. Kann ich bitte Wasser haben?« Der besorgte Ausdruck im Gesicht der Frau verschwand nicht. Dann spürte er ihren Arm unter der Schulter. Er wurde hochgezogen und ein Becherrand gegen seine Lippen gepresst. Huy trank schnell und gierig, den Blick auf dem Gesicht, das er offenbar kennen sollte. »Wer bist du?«, fragte er.
Sie lächelte traurig. »Ich heiße Itu, und dieses Haus hier gehört meinem Gemahl Hapu«, antwortete sie vorsichtig.
»Aber ich bin doch Huy, Sohn des Hapu!«, rief Huy. »Bist du
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