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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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Wissen, gepaart mit Weisheit«, sagte der Mann, und um ihn herum tauchte der Unterrichtssaal auf und mit ihm die Geräusche der fleißigen Schüler, das Klappern der Tonscherben, wenn sie jemand aus dem Korb holte, der leise Gesang eines älteren Schülers am anderen Ende des Raums, der Geruch von Papyrus, der köstliche Duft von gebratenem Fisch, der in den Speisesaal nebenan gebracht wurde. Huy hätte vor Freude heulen können. Aber wo sind meine Klassenkameraden? Sie kann ich nicht sehen. Doch eines Tages werde ich es. Sein Lehrer sprach erneut: »Bislang besitzt du wenig Wissen und keine Weisheit, Huy, Sohn des Hapu. Doch eines Tages wird deine Gelehrsamkeit selbst die der Götter übertreffen.« Huy runzelte die Stirn. Die Augen, in die er sah, gehörten jemand anderem, den er kannte, und auch die Stimme war anders, die Rede geschliffener als die des Lehrers. Die Trauer um einen Verlust überfiel ihn, doch er wusste nicht genau, was er vermisste. Er schob die Palette zu und war plötzlich ungeheuer erschöpft. Er stellte sie neben dem Bett auf den Boden und schlief sofort ein.
    Auch wenn er jetzt im Sessel sitzen und herumlaufen konnte, wollte seine Mutter nicht, dass er den Raum schon verließ. »Du musst mehr essen, mehr ruhen, mehr Kraft bekommen«, sagte sie, aber Huy glaubte, dass es ihr eher darum ging, ihn vor Verletzungen zu schützen. Also nahm er sich eines Morgens ein Lendentuch und einen Schurz aus seiner Truhe, zog sie an, schlüpfte in ein Paar Sandalen und ging durch die Tür, die er so viele Wochen lang vom Bett aus angestarrt hatte.
    Der Gang war leer. Huy wandte sich nach rechts, Richtung Garten. Sein Körper wog schwer, und seine Beine waren schwach. Die Knöchel schmerzten. Am Ende des Ganges blieb er blinzelnd stehen, um seine Augen an das Licht der Morgensonne zu gewöhnen, das sich in dem Teich spiegelte. In den Bäumen vor dem Obstgarten war das hohe Fiepen von jungen Vögeln im Nest zu hören, und in der Luft lag der Duft von Obstblüten. Natürlich, dachte er, es ist ja noch Peret. Wachstumszeit. Doch welcher Monat? Wann bin ich erschlagen worden? – Wie wunderbar frisch der Garten ist!
    Er ging vorsichtig weiter. Nach der langen Zeit im Dämmerlicht seines abgeschiedenen Zimmers bestürmten die neuen Eindrücke alle seine Sinne. Im Schatten unter einer der Sykomoren regte sich etwas. Eine Frau erhob sich von einer Schilfmatte im Gras. Sie trug ein Kind auf dem Arm. Beide sahen Huy argwöhnisch an. Hapsefa, sagte ihm sein Gedächtnis, ohne zu zögern. Und das kleine Kind muss mein Bruder sein … Heby! Huy zwang sich zu einem Lächeln. »Der Morgen ist so schön, Hapsefa, dass ich beschlossen habe, ihn hier zu genießen.« Gern hätte er hab keine Angst und lauf nicht weg hinzugefügt, aber sie hatte sich schon abgewandt, um durch den Obstgarten davonzulaufen. Ihre Anspannung hatte sich wohl auf Heby übertragen, denn er begann, die Augen auf seinen Bruder gerichtet, sich zu winden und zu protestieren. »Bitte, lass ihn zu mir«, bettelte Huy. »Er erinnert sich an mich, Hapsefa. Heby! Ich bin’s, Huy.« Doch Hapsefa schüttelte den Kopf und rannte schwerfällig durch das Gartentor.
    Huy seufzte, ging zum Teich und blickte herunter auf das geschäftige Treiben darin. Die blauen Seerosen waren schon offen, auf den zierlichen, bootförmigen Blüten zitterten winzige Wassertropfen. Auf den robusten Blättern hockten die Frösche und lauerten auf Mücken. Ein Wasserkäfer kam aus dem Schutz der Seggen am Ufer, glitt vorüber und hinterließ ein kaum sichtbares Kielwasser. Die Gemüsepflanzen seiner Mutter scharten sich ordentlich rund um den Teich, Salat mit schmalen, dunkelgrünen Blättern, Melonenranken mit gelben Blüten und winzige Kohlköpfe. Bei diesem Anblick fühlte sich Huy plötzlich dürr und krank. Er ging in den Schatten und setzte sich auf die Matte, die Hapsefa liegen gelassen hatte.
    Er musste eingedöst sein, denn als er hochfuhr, saß sein Vater mit gekreuzten Beinen neben ihm und blickte über den Garten hinweg auf die strahlend weiße Hauswand. Der Mann bewegte sich nicht, als sich Huy aufrappelte, doch als er ihn berühren wollte, wich Hapu zurück.
    »Mein Sohn hat diese Wand immer mit Bildern und Schriftzeichen bemalt«, sagte er heiser. »Jedes Jahr, wenn ich sie neu getüncht habe, tat es mir leid, so schöne Farben zu überstreichen, doch ich wusste, dass er bald wieder mit dem Bruder auf dem Rücken am Werk sein und die Pinsel schwingen würde, die ihm sein

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