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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Dingen haben wir dieselbe Meinung. Wir haben uns voneinander entfernt, ja, aber das ist alles, wir bewegen uns in verschiedene Richtungen. Glauben Sie nicht, daß wir wieder zusammenkommen könnten, wenn wir beide einen ernsthaften Versuch machten?«
    »Doch.«
    »Warum soll ich es dann nicht versuchen, anstatt…«
    »Sie müßten sich auf Transit einlassen«, sagte er.
    Ich zuckte die Achseln. »Ich glaube, das würde ich schaffen, wenn es sein muß. Wenn die einzige Alternative wäre, Sundara zu verlieren.«
    »Sie könnten es nicht schaffen. Es ist Ihnen fremd, Lew. Es widerspricht allem, woran Sie glauben und wofür Sie arbeiten.«
    »Aber um Sundara zu halten…«
    »Sie haben sie schon verloren.«
    »Nur in der Zukunft. Noch ist sie meine Frau.«
    »Was Sie in der Zukunft verlieren, haben Sie jetzt schon verloren.«
    »Ich weigere mich…«
    »Sie müssen!« schrie er. »Es ist alles eins, Lew, alles eins! Sie sind so weit mit mir gegangen und begreifen das nicht?«
    Ich verstand. Ich kannte jedes Argument, das er auftischen würde, und ich glaubte sie alle; mein Glaube war nicht etwas von außen mir Aufgesetztes, vielmehr etwas Inneres und Wesentliches, etwas, das während dieser letzten Monate in mir gewachsen war und sich ausgebreitet hatte. Und doch wehrte ich mich immer noch dagegen. Immer noch suchte ich ein Hintertürchen. Immer noch griff ich gierig nach jedem Strohhalm, der im Mahlstrom um mich herumwirbelte, wo ich doch schon hinuntergezogen wurde.
    »Sagen Sie mir den Rest. Warum ist es notwendig und unvermeidbar, daß ich Sundara verlasse?«
    »Weil Sundaras Schicksal bei Transit liegt und Ihres so fern von Transit, wie Sie sich nur halten können. Denen geht es um Ungewißheit, Ihnen um Gewißheit. Die wollen untergraben. Sie wollen aufbauen. Diese fundamentale philosophische Kluft wird noch immer weiter werden und sich nie überbrücken lassen. Also müssen Sie beide sich trennen.«
    »Wie bald?«
    »Sie werden noch vor Ende des Jahres allein leben«, erklärte er mir. »Ich habe Sie verschiedentlich in Ihrer neuen Wohnung gesehen.«
    »Keine Frau lebt mit mir zusammen?«
    »Nein.«
    »Zölibat liegt mir nicht. Ich habe damit nicht viel Erfahrung.«
    »Sie werden Frauen haben, Lew. Aber Sie werden allein leben.«
    »Sundara kriegt das Apartment?«
    »Ja.«
    »Und die Gemälde, die Plastiken, die…«
    »Weiß ich nicht«, sagte Carvajal gelangweilt. »Auf solche Einzelheiten habe ich wirklich nicht geachtet. Sie wissen, die bedeuten mir nichts.«
    »Ich weiß.«
    Er entließ mich. Ich lief drei Meilen stadtauswärts, sah nichts um mich herum, hörte nichts, dachte nichts. Ich war eins mit dem Nichts; ich war ein Teil der großen Leere. An der Ecke Soundso-Straße/Gott-weiß-wo-Avenue fand ich eine Telefonzelle, steckte eine Münze in den Schlitz, wählte die Nummer von Haig Mardikians Büro und bonzte mir meinen Weg durch den Kordon von Empfangsdamen, bis schließlich Mardikian selbst am Apparat war. »Ich lasse mich scheiden«, sagte ich und lauschte einen Augenblick lang der stillen Explosion seiner Überraschung, die wie die Brandung vor Fire Island in einem Märzsturm durch die Leitung donnerte. »Die finanzielle Seite ist mir egal«, sagte ich dann. »Ich will nur einen sauberen Schnitt. Kannst du mir einen Anwalt nennen, dem du vertraust, Haig? Jemand, der es schnell erledigt, ohne ihr weh zu tun.«
     
31
    In Tagträumen stelle ich mir vor, wie es sein wird, wenn ich wahrhaft sehen kann. Meine Vision durchschneidet die trübe, unsichtbare Sphäre, die uns alle umgibt, und ich trete hinaus ins Reich des Lichts. Ich habe geschlafen, ich war eingekerkert, ich war blind, und nun, da die Verwandlung über mich gekommen ist, ist es wie ein Erwachen. Dahin sind die Ketten; meine Augen sind offen. Um mich herum bewegen sich langsame, unsichere, schattenverhüllte, blind stolpernde Gestalten, deren Gesichter grau sind vor Verwirrung und Ratlosigkeit. Diese Gestalten, das sind Sie, und zwischen Ihnen und um Sie herum tanze ich, meine Augen leuchten, entflammt ist mein Körper in der Freude neuer Wahrnehmung. Vorher, das war wie ein Leben tief im Meer, unter einem furchtbaren Druck und abgeschnitten von dieser erregenden Helligkeit durch jene biegsame, doch undurchdringliche Membran, die zwischen Meer und Himmel verläuft; und nun bin ich durchgebrochen, hinaus in einen Raum, wo alles glüht und strahlt, wo alles in funkelndes Licht getaucht ist und golden, violett und scharlachrot schimmert. Ja. Ja.

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