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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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fast bis zu den Brüsten hochgezogen, und als meine Hände über die Seide ihrer Haut glitten, trafen sie wieder und wieder auf das kühle Metall des Transit-Emblems, das um ihren Schenkel gebunden war – nie nahm sie es ab, nie –, und nicht einmal das trübte die Vollkommenheit. Aber natürlich war es kein Akt der Liebe: Es war bloß ein athletisches Ereignis, zwei unvergleichliche Diskuswerfer, die sich vereint durch die vorgeschriebenen, feststehenden Rituale ihrer speziellen Kunst hindurchbewegen – was hatte Liebe damit zu tun? In mir war noch Liebe für sie, ja, eine verzweifelte, hungrige Liebe von der Art, die zittert und kratzt und beißt, aber nichts von alledem konnte mehr ausgedrückt werden, im Bett nicht und woanders nicht.
    So strichen wir denn unser olympisches Gold ein, für Kunstsprung und Trampolintanz, für das 300-Kilo-Drücken und den Eiskunstlauf, den Stabhochsprung und die 400-m-Hürden, und mit kaum wahrnehmbaren Stößen und Lauten führten wir einander heran an den höchsten Punkt, und dann waren wir da, und für einen endlosen Moment lösten wir uns auf in der Quelle der Schöpfung, und dann endete der endlose Moment, wir fielen auseinander, schwitzend, klebrig, erschöpft.
    »Würde es dir was ausmachen, mir ein Glas Wasser zu holen?« fragte Sundara nach ein paar Minuten.
    Womit es endete.
    Jetzt reichen Sie die Scheidung ein, sagte Carvajal sechs Tage später.

30
    Überantworten Sie sich mir, das war die Abmachung, keine Fragen, keine Garantien. Keine Fragen. Aber diesmal mußte ich fragen. Carvajal drängte mich zu einem Schritt, den ich ohne eine Erklärung nicht nehmen konnte.
    »Sie haben versprochen, nicht zu fragen«, sagte er verdrossen.
    »Trotzdem. Geben Sie mir einen Hinweis, oder ich kündige unsere Abmachung.«
    »Meinen Sie das ernst?«
    »Ich meine es ernst.«
    Er versuchte, mich niederzustarren, aber seine leeren Augen, denen ich manchmal so wenig entgegensetzen konnte, schüchterten mich diesmal nicht ein. Mein Ahnungsvermögen sagte mir, ich sollte weitergehen, ihm zusetzen, Auskunft verlangen über die Struktur der Ereignisse, in die ich eintrat. Carvajal leistete Widerstand. Er wand sich und schwitzte und sagte, daß ich mein Training mit diesem ungehörigen Ausbruch von Unsicherheit um Wochen, wenn nicht um Monate zurückwürfe. Haben Sie Vertrauen, drang er in mich, folgen Sie dem Drehbuch, tun Sie, wie Ihnen geheißen, und alles wird gut sein.
    »Nein«, sagte ich. »Ich liebe sie, und selbst heute ist Scheidung kein Witz. Ich kann da nicht einfach einem Einfall folgen.«
    »Ihr Training…«
    »Zum Teufel damit. Warum sollte ich meine Frau verlassen? Nur weil wir uns in letzter Zeit nicht sehr nahe gewesen sind? Eine Trennung von Sundara ist nicht dasselbe wie ein Haarschnitt.«
    »Natürlich ist sie dasselbe.«
    »Was?«
    »Alle Ereignisse sind auf lange Sicht gleichwertig«, sagte er.
    Ich schnaubte wütend. »Reden Sie keinen Mist. Verschiedene Handlungen haben verschiedene Konsequenzen, Carvajal. Ob ich mein Haar kurz oder lang trage, kann auf umliegende Ereignisse keine große Auswirkung haben. Aber Ehen bringen manchmal Kinder hervor, und Kinder sind einzigartige genetische Konstellationen; die Kinder, die Sundara und ich zeugen könnten, wenn wir uns dazu entschlössen, wären anders als die Kinder, die sie oder ich mit anderen Partnern hätten, und die Unterschiede – Gott, wenn wir uns trennen, heirate ich vielleicht eine andere Frau und werde der Urgroßvater des nächsten Napoleon, und wenn wir zusammenblieben, werde ich vielleicht… Wie können Sie nur behaupten, daß auf lange Sicht alle Ereignisse gleichwertig sind?«
    »Sie begreifen sehr langsam«, sagte Carvajal traurig.
    »Was?«
    »Ich habe nicht von Auswirkungen geredet. Nur von Ereignissen. Alle Ereignisse sind gleichwertig in ihrer Wahrscheinlichkeit, Lew, womit ich meine, daß jedes Ereignis, das stattfinden wird, vollkommen wahrscheinlich ist…«
    »Tautologie!«
    »Ja. Aber Sie und ich, wir haben mit Tautologien zu tun. Ich sage Ihnen, ich sehe, daß Sie sich von Sundara scheiden lassen, genauso, wie ich jenen Haarschnitt gesehen habe, und daher sind diese Ereignisse von gleicher Wahrscheinlichkeit.«
    Ich schloß die Augen. Für eine lange Weile saß ich ganz still.
    Schließlich sagte ich: »Sagen Sie mir, warum ich mich von ihr scheiden lasse. Besteht denn keine Hoffnung, die Beziehung zu retten? Wir streiten nicht. Wir haben keine ernsten Auseinandersetzungen um Geld. In vielen

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