Der Seher
Endlich sehe ich.
Was sehe ich?
Ich sehe die liebe, friedliche Erde, auf der unsere Dramen spielen. Ich sehe die schwitzigen Kämpfe der Blinden und Tauben, die, während sie sich mühen, von einem unbegreiflichen Schicksal herumgestoßen werden. Ich sehe, wie sich die Jahre aufrollen gleich langen Farnwedeln im Frühling, hellgrün an den Spitzen – und sich von mir weg ins Unendliche erstrecken. In grellen Blitzen periodischen Lichts sehe ich, wie Jahrzehnte zu Jahrhunderten aufschießen und wie Jahrhunderte zu Epochen und Äonen werden. Ich sehe die langsame Prozession der Jahreszeiten, die Systolen und Diastolen von Winter und Sommer, Herbst und Frühling, den ganzen fein verschränkten Rhythmus von Wärme und Kälte, Dürre und Regen, von Sonnenschein und Nebel und Dunkelheit.
Grenzenlos ist meine Vision. Hier sind die Labyrinthe der Städte von morgen, die sich auftürmen und fallen und wieder auftürmen, New York in wahnwitzigem Wachstum, Wolkenkratzer auf Wolkenkratzer gehäuft, die alten Fundamente zum Schutt werdend, auf dem die neuen Fundamente ruhen, Schicht über Schicht wie die vermischten Lagen von Schliemanns Troja.
Durch gewundene Straßen hasten Fremde in befremdlicher Kleidung, die einen unverständlichen Jargon sprechen. Maschinen gehen auf gelenkigen Beinen herum. Mechanische Vögel fliegen, zwitschernd wie quietschende Türen, durch die Luft. Alles fließt. Da, der Ozean weicht zurück, und schlüpfrige braune Biester zappeln und schnappen nach Luft auf dem nackten Meeresboden! Da, das Meer kehrt wieder und verschlingt die uralten Straßen, die die Stadt umringen! Da, der Himmel ist grün! Da, der Regen ist schwarz! Da ist der Wechsel, da ist Verwandlung, da sind die Launen der Zeit! Ich sehe es alles!
Dies sind die ewigen Bewegungen der Galaxien, fern und unfaßbar. Dies sind die Tagundnachtgleichen, dies ist der wandernde Sand. Die Sonne ist sehr warm. Worte sind nadelspitz geworden. Ich erhasche flüchtige Blicke auf ungeheure Wesen, die aufsprießen und sich blähen und verfallen und sterben. Dies sind die Grenzen des Reiches der Kröten. An dieser Mauer beginnt die Republik der langbeinigen Insekten. Der Mensch selbst ändert sich. Sein Körper wandelt sich viele Male, wird grob und dann fein und dann gröber als je zuvor, sonderbare Organe entwickeln sich an ihm, die wie Stimmgabeln an den Knoten seiner ledernen Haut zittern, er hat keine Augen und ist glatt von den Lippen bis zur Spitze des Kopfes, er hat viele Augen, er ist bedeckt mit Augen, er ist nicht mehr Mann und Frau, sondern funktioniert in der Form eines vermischten Geschlechts, er ist winzig, er ist riesig, er ist flüssig, er ist metallisch, er springt durch die Bäume zwischen den Sternen, er duckt sich in feuchten Höhlen, er überflutet den Planeten mit Legionen seiner Rasse, er schrumpft aus eigener Wahl auf ein paar Dutzend, er schüttelt die Faust drohend gegen einen rotgeschwollenen Himmel, er singt beängstigende Lieder in einem nasalen Geleier, er liebt Monster, er schafft den Tod ab, er badet wie ein mächtiger Wal im Meer, er wird zu einer Horde summender, insektenhafter Arbeitstiere, er schlägt sein Zelt in glühendem, diamanthellem Wüstensand auf, er lacht mit Trommeln, er bettet sich mit Drachen, er schreibt Gedichte aus Gras, baut Schiffe aus Luft, er wird zum Gott, er wird zum Dämon, er ist alles, er ist nichts.
Schwergewichtig bewegen sich die Kontinente, wie Flußpferde in einer stattlichen Polka. Der Mond fällt tief in den Himmel, blinzelt unter seiner Stirn hervor wie eine brennende weiße Blase und zerspringt mit einem wunderbar gläsernen Bing!, das jahrelang nachklingt. Die Sonne selbst treibt von ihrem Ankerplatz, denn alles im Universum ist in ständiger Bewegung, und die Reisen sind von unendlicher Vielfalt. Ich sehe, wie sie in den Golf der Nacht gleitet, und warte auf ihre Rückkehr, aber sie kehrt nicht zurück, und ein Mantel von Eis legt sich über die schwarze Haut des Planeten, und die, die zu dieser Zeit leben, werden Geschöpfe der Nacht, selbstgenügsam, kälteliebend. Und über das Eis kommen schwerkeuchende Bestien, aus deren Nüstern Nebel steigt; und aus dem Eis dringen Blumen blauen und gelben Kristalls; und am Himmel scheint ein neues Licht, ich weiß nicht, von wo.
Was sehe ich, was sehe ich?
Dies sind die Führer der Menschheit, die neuen Könige und Kaiser, die ihre Zepter hochhalten und Feuer aus Berggipfeln schlagen. Dies sind die Götter, die noch niemand gedacht.
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