Der Seitensprung
Winkel zur Teppichkante verloren hatte, zog sich eine frische Unterhose an und ging zurück in die Küche. Der Milchreis wuchs in seinem Mund, an Schlucken war nicht zu denken.
Was, wenn er sie enttäuschte, wenn er ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte? Denn, was hatte sie überhaupt in ihm gesehen? Warum war sie ganz ohne Argwohn, voller Zutrauen mit ihm in seine Wohnung gegangen und hatte sich ihm hingegeben, vollkommen vorbehaltlos? Es musste Schicksal gewesen sein. Sie hatten alles gefunden, was sie gesucht hatten, als sie sich trafen. So musste es sich anfühlen, wenn man endlich der Richtigen begegnet war. All das konnte nicht einfach so passiert sein, es musste eine Bedeutung haben. Dass er genau an diesem Abend, dem ersten, ausgerechnet sie getroffen hatte, dass er gewagt hatte loszulassen. Das war der Anfang. Er wusste es!
Warum rief sie nicht an?
Er stand auf und ging zum Telefon, um zu kontrollieren, ob er ordentlich aufgelegt hatte. Er wollte den Hörer anheben, um sich zu vergewissern, ob das Gespräch mit der Monsterpsychologin wirklich unterbrochen worden war, traute sich aber nicht. Was, wenn sie in dieser Sekunde anrief?
Er sank auf die Bettkante.
Wenn er sie nie wieder sah. Der Gedanke war nicht auszuhalten.
Wenn sie nicht anrufen wollte, wenn sie ihn deswegen nicht geweckt hatte, als sie ging.
Wenn er sie enttäuscht hatte. Wenn er sie verloren hatte.
Es musste doch etwas wert, etwas Richtiges gewesen sein! Sonst würde Anna gewinnen. Indem sie ihn im Stich ließ, würde sie sich in einer Weise an ihm rächen, die er nicht verdient hatte.
Es musste etwas wert gewesen sein! Er war sich so sicher gewesen, hatte sich so stark gefühlt. Plötzlich wusste er überhaupt nichts mehr.
In der Wohnung konnte er nicht bleiben, er musste hinaus. All die Fragen würden ihn in den Wahnsinn treiben, er musste sie finden. Musste die Kontrolle über das Geschehen zurückerobern.
Er ging zum Schrank und holte eine beige Hose und einen Pulli heraus. Er hätte sich etwas Neues zum Anziehen kaufen sollen, aber wie sollte er sich das leisten? Er fragte sich, welchen Beruf sie hatte. Er musste es herausfinden. Er musste alles über sie erfahren. Musste bei ihr sein, an ihren Gedanken teilhaben, mit ihr schlafen. Alles. Er wollte alles.
Er nahm die U-Bahn bis Slussen und ging das letzte Stück bis zur Gamla Stan hinüber zu Fuß. Die Uhr am Katarinafahrstuhl zeigte 21:32 an. Er hielt sein Mobiltelefon in der Hand, um sicherzugehen, dass er es klingeln hörte, denn er hatte seine Festnetznummer weitergeleitet, bevor er die Wohnung verlassen hatte. Als er den Järntorget zur Hälfte überquert hatte, blieb er stehen und betrachtete die rote Markise. Dort hatte sie gesessen. Gestern hatte er an genau diesem Ort gestanden, hier hatte alles angefangen. Seitdem war nur ein Tag vergangen, doch alles hatte sich verändert. Alles war neu.
Auf dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, saß ein ungefähr dreißigjähriger Mann im Anzug, und zu beiden Seiten von ihm saßen weitere gut gekleidete Männer. Was, wenn sie dort drinnen war? Wenn er in diesem Moment nur dreißig Meter von ihr entfeint war?
Er ging auf den Eingang zu. Die Möglichkeit, sie vielleicht bald zu sehen, ließ ihn seine Schritte beschleunigen.
Das Lokal war voller Menschen. Alle Sitzplätze belegt und Gedränge vor dem Tresen. Hastig ließ er seinen Blick über die Gesichter schweifen, aber sie war nicht unter ihnen. Sie dort drüben könnte es vielleicht sein, die mit dem Rücken zu ihm saß, in dem schwarzen Pullover. Er zwängte sich durch das Gedränge. In der Eile stieß er gegen einen abstehenden Ellbogen, und das Glas am anderen Ende des Armes schwappte über. Ein irritierter Blick. Er scherte sich nicht darum. Mit klopfendem Herzen bahnte er sich seinen Weg bis zur gegenüberliegenden Wand, um ihr Gesicht zu sehen. Und dann die Enttäuschung, als sein Blick auf die unbekannten Augen traf.
So viele Menschen waren ihm unangenehm. Ein rauschendes Gemurmel, in dem kein Wort zu hören war, nur Wogen von fremden Stimmen, die sich über die Musik legten.
Wo war die Toilette? Vielleicht war sie dort? Er ging am Tresen vorbei und fand im Gang hinter der Küche zwei Klotüren. Die eine zeigte an, dass sie frei war, aber zur Kontrolle öffnete er sie, um sicherzugehen, dass sie nicht dort drin war. Die andere Toilette war besetzt, und er blieb wartend davor stehen, hörte jemanden spülen. Er sah ihre Hand vor sich, spürte, wie sie ihm über die
Weitere Kostenlose Bücher