Der Seitensprung
Mänteln um, ohne welche entdecken zu können.
Ihre Stimme aus dem oberen Stockwerk.
»Hallo?«
Instinktiv versteckte er den Strauß hinter seinem Rücken.
»Ich bin es nur.«
Ihre Schritte da oben, und dann waren ihre Füße, Beine und schließlich ihre ganze Person auf halber Treppe sichtbar, wo sie stehen blieb. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war schwer zu deuten, vielleicht erstaunt, vielleicht verärgert.
»Ich dachte, du wolltest nicht vor morgen Abend kommen.«
»Ich weiß. Ich habe mich anders entschieden.«
Er schluckte den Impuls hinunter, sie zu fragen, ob sie allein war, dabei wollte er es unbedingt wissen.
Sie blieben stehen und betrachteten einander, keiner von beiden bereit zum nächsten Schritt. Der Blumenstrauß brannte in seiner Hand, plötzlich so peinlich, dass er am liebsten rückwärts wieder hinausgegangen wäre und ihn entsorgt hätte, bevor er entdeckt wurde.
Es war ihm unmöglich herauszufinden, was er fühlte, als er sie sah. Nur der Wunsch, in aller Ruhe die Treppe hinaufsteigen zu können, auf das Sofa zu sinken und alles sein zu lassen wie immer. Entscheiden, wer Axel vom Kindergarten abholen sollte, ohne Magenschmerzen dorthin fahren und dann wie an einem ganz gewöhnlichen Dienstag zu Abend essen. Fragen, wie es dem Kind ginge, sich erkundigen, ob jemand angerufen hätte und wo seine Post läge. Ob sie sich einen Film ausleihen wollten. Aber zwischen ihnen türmte sich ein Berg. Und er hatte keine Ahnung, wie er den überwinden sollte. Was ihn dahinter erwartete.
»Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«
Es war nicht seine Absicht gewesen, die Frage wie eine Schnüffelei klingen zu lassen, aber er hörte selbst, wie vorwurfsvoll sein Ton war. Und es war mehr als deutlich, dass sie nach einer passenden Antwort suchte, weil es keine gab.
»Ich hatte ein wenig Halsweh.«
Als sie das sagte, war sie schon wieder auf dem Weg nach oben, ohne ihn anzusehen. Er wusste, dass sie log. Als sie außer Sichtweite war, legte er den Strauß ab und zog sich schnell die Jacke aus, betrachtete sich im Garderobenspiegel und fuhr mit den Fingern durch sein Haar. Er konnte sich nicht erinnern, wann er ihr zuletzt Blumen gekauft hatte. Falls er es jemals getan hatte. Aber wenn ihm gelingen sollte, was er sich vorgenommen hatte, musste er seine Schamgefühle überwinden. Er hatte nur ein Ziel, doch in seinem Innern fochten die Gefühle untereinander einen Kampf aus. Wut, Angst, Verwirrung, Entschlossenheit.
Er nahm die Rosen und ging die Treppe hinauf.
Sie stand am Küchentisch und sammelte Papier ein. Ein Taschenrechner und ein Stift. Der Ordner, den sie vom Makler bekommen hatten, in dem sie alle Rechnungen und Kreditunterlagen aufbewahrte, die das Haus betrafen.
Wieder die Angst. Stärker als die Wut.
»Was tust du?«
Bevor sie antworten konnte, entdeckte sie den blutroten Rosenstrauß. Stand schweigend da und starrte ihn an, als versuchte sie zu erkennen, worum es sich handelte. Schließlich, nach einer quälend langen Pause, in der er nur das Klopfen seines eigenen Herzens vernahm, gelang es ihr endlich, den Gegenstand zu identifizieren.
»Hast du Blumen bekommen?«
»Nein, die sind für dich.«
Er reichte ihr den Strauß, aber sie blieb stehen, wo sie stand. Nicht die Andeutung einer Reaktion. Alles leer. Kein Ansatz, auf ihn zuzukommen und die Blumen in Empfang zu nehmen. Durch ihre Gleichgültigkeit fühlte er sich plötzlich so lächerlich, dass er ihr am liebsten alle Vorwürfe direkt ins Gesicht geschleudert hätte. Er wollte diese falsche, kalte Maske zerbrechen, hinter der sie sich versteckte, und sie in die Knie zwingen. Damit sie gestand. Aber er musste sich klüger anstellen, wenn er mit dieser Sache fertig werden wollte.
Er schluckte.
»Soll ich sie ins Wasser stellen?«
Seine Worte brachten sie in Bewegung, sie ging zum Regal über dem Kühlschrank, in dem sie die Vasen aufbewahrte, zögerte kurz, als sie nicht hinaufreichte, kehrte zurück zum Küchentisch und holte einen Stuhl. Sie bedankte sich nicht, als er ihr den Strauß überreichte. Schaute ihn auch nicht an. Nahm ihm nur die Blumen aus den Händen, drehte sich um und ging zur Spüle. Er stand da und betrachtete ihren Rücken, als sie lange und umständlich die Rosenstiele abschnitt und in einer Vase arrangierte.
Vielleicht hatte sie bereits einen Entschluss gefasst und schöpfte jetzt lediglich Kraft. Vielleicht würde sie sich bald umdrehen und sagen, wie es stand, dass sie sich entschieden hatte, während er
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