Der seltsame Mr Quin
Thompson kurz zu, und dieser ging hinaus. Kurze Zeit darauf erschien er wieder und ließ einen großen schlanken Fremden ins Zimmer.
»Mr Unkerton?« Der Fremde reichte ihm die Hand. »Es tut mit leid, dass ich hier gerade in einem solchen Augenblick eindringe. Wir müssen wohl unser kleines Gespräch über das Bild auf ein andermal verschieben. Ah, mein Freund Sattersway. Immer noch eine Schwäche für das Dramatische, wie eh und je?«
Ein feines Lächeln spielte bei den letzten Worten um den Mund des Fremden.
»Mr Quin«, sagte Mr Sattersway bedeutungsvoll. »Es hat sich hier gerade ein Drama abgespielt. Wir sind noch mitten drin. Ich würde gern Ihre Meinung darüber hören. Und Major Porter, mein Freund, auch.«
Mr Quin setzte sich. Die Lampe mit dem roten Schirm warf ein breites Band von farbigem Licht über das Karomuster seines Mantels und ließ sein Gesicht im Schatten. Es war, als trüge er eine Maske. In knapper Form berichtete Mr Sattersway über die wesentlichen Punkte der Tragödie. Dann schwieg er und wartete gespannt auf den Spruch des Orakels.
Doch Mr Quin schüttelte nur den Kopf. »Eine traurige Geschichte«, meinte er. »Eine sehr traurige, entsetzliche Geschichte. Das Fehlen eines Motivs ist sehr bedeutsam.«
Unkerton starrte ihn entgeistert an. »Verstehen Sie denn nicht!«, sagte er. »Mrs Staverton drohte Richard Scott. Sie war wegen seiner Frau entsetzlich eifersüchtig. Eifersucht ist…«
»Ganz meiner Meinung«, antwortete Mr Quin. »Eifersucht oder teuflische Besessenheit – es ist alles dasselbe. Doch Sie missverstehen mich. Ich meinte nicht den Mord an Mrs Scott, sondern an Captain Allenson.«
»Sie haben Recht!«, rief Porter aufgeregt. »Da liegt der Fehler! Wenn Iris je daran gedacht hätte, Mrs Scott zu erschießen, würde sie es getan haben, wenn sie allein war. Ja, wir sind auf der falschen Spur. Und ich glaube, ich sehe eine andere Lösung. Nur jene drei Menschen gingen in den Garten. Das steht unbestreitbar fest, und ich beabsichtige nicht, es anzuzweifeln. Doch lassen Sie mich die Tragödie anders rekonstruieren! Angenommen, Jimmy Allenson erschoss zuerst Mrs Scott und dann sich selbst. Das ist doch möglich, nicht wahr? Im Fallen schleudert er die Waffe von sich – und Mrs Staverton entdeckt sie im Gras und hebt sie auf, wie sie gesagt hat. Wie klingt das?«
Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Es ist nicht stichhaltig, Major Porter. Wenn Captain Allenson diesen Schuss nahe an seiner Brust abgegeben hätte, müssten seine Kleider versengt sein.«
»Vielleicht hat er die Pistole, so weit er konnte, von sich weggehalten.«
»Warum? Klingt nicht glaubwürdig. Außerdem – es fehlt das Motiv.«
»Vielleicht hat er plötzlich durchgedreht«, murmelte Porter ohne große Überzeugung. Er verfiel wieder in Schweigen. Dann sagte er abrupt: »Nun, Mr Quin?«
Dieser schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Zauberer. Auch kein Kriminalist. Aber ich möchte Ihnen etwas verraten: Ich glaube an den Wert des ersten Eindrucks. In jeder Krisensituation gibt es immer einen Moment, der hervorsticht, das Bild einer Szene, das im Gedächtnis haften bleibt, wenn alles andere längst verblasst ist. Ich vermute, dass Mr Sattersway von allen Anwesenden der unparteiischste Beobachter ist. Würden Sie sich noch einmal rückerinnern, Mr Sattersway, und uns von dem Augenblick berichten, der den stärksten Eindruck bei Ihnen hinterließ? War es die Sekunde, als Sie die Schüsse hörten? Als Sie die Toten entdeckten? Als Sie die Pistole in Mrs Stavertons Hand sahen? Machen Sie sich von allen vorgefassten Werturteilen frei und sagen Sie es uns!«
Mr Sattersway heftete die Augen auf Mr Quins Gesicht, ungefähr wie ein Schuljunge, der eine Lektion aufsagen soll, die er nicht richtig gelernt hat.
»Nein«, begann er langsam. »Diese Augenblicke haben mich nicht am meisten beeindruckt. Sondern der Moment, als ich mit den Toten – hinterher – allein war und auf Mrs Scott hinabsah. Sie lag auf der Seite. Ihr Haar war in Ordnung. An ihrem einen kleinen Ohr war ein Blutfleck.«
Kaum hatte er dies gesagt, da erkannte er, dass es etwas sehr Wichtiges war.
»Blut an ihrem Ohr? Ja, ich erinnere mich«, bemerkte Unkerton langsam.
»Der Sturz muss ihr den Ohrring abgerissen haben«, erklärte Mr Sattersway.
Doch er fand, dass seine Worte etwas unglaubwürdig klangen.
»Sie lag auf der linken Seite«, sagte Porter. »Dann war es wohl auch das linke Ohr?«
»Nein«, antwortete Mr Sattersway rasch. »Es
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