Der Sensenmann
lächelte spitzbübisch. »Woher willst du das wissen, Maria?«
»Weil alle das Zittern bekommen. Wäre es anders, dann wäre es auch unnormal. Ich habe ihn dir schon beschrieben. Er sieht grauenvoll aus. Diese graue Gestalt mit der geschulterten Sense, dem langen dunklen Mantel und dem Schlapphut. Furchtbar ist das.« Sie schauderte im Sessel zusammen.
»Erst mal herausfinden, ob es ihn gibt.«
»Denkst du, daß ich dich anlüge?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber eine gesunde Skepsis darf ich doch wohl haben?«
»Ja, das schon. Ich begreife es ja auch nicht. Der ist wie eine Gestalt aus den phantastischen Geschichten eines E.T.A. Hoffmann.« Maria hob einen Arm und spreizte die Finger. »Als wäre er aus den Büchern gestiegen und zum Leben erweckt worden.«
»Kann sich da jemand verkleidet haben?«
»Ha.« Beinahe wäre Maria sogar aus dem Sessel gesprungen. »Nein, auf keinen Fall. Der ist echt. Ich habe ihn schließlich selbst gesehen. Und dann denk an die Morde, die passiert sind.«
»Und die die Polizei nicht zugeben will – oder?«
»Ist doch klar. Sie können das nicht. Ich habe mich ja an diesen Kommissar gewandt.« Sie räusperte sich. »Verflixt, wie heißt er denn nun gleich? Ich habe dir doch auch den Namen gesagt.«
»Hinz. Uwe Hinz.«
Maria ließ die Hand wieder sinken. »Ja, du hast recht. Bist nicht so senil wie ich.«
»Ach, glaube das nur nicht.«
»Ist auch egal.« Sie beugte sich vor, um Sarah ansehen zu können. Dabei zog Maria die dunkelblaue Strickjacke enger um ihren Körper. »Er jedenfalls hat mich ausgelacht und nicht ernstgenommen. Wahrscheinlich hat er mich für eine alte und vertrottelte Vettel gehalten. Aber das bin ich nicht. Was ich gesehen habe, das habe ich gesehen.« Sie wies mit zitternder Hand zum Fenster. »Und zwar hier. Aber nie bei Tageslicht. Immer dann, wenn es dunkel war, Sarah. Und jetzt ist es dunkel.«
»Dann sollte ich mich mal ans Fenster stellen – oder?«
»Wenn du willst.«
»Den Gefallen tue ich dir gern. Die alten Knochen brauchen sowieso etwas Bewegung.« Lady Sarah stand auf. Wie bei ihr üblich, so fing es auch bei dieser Bewegung an zu klirren, denn die vier Ketten, die sie um den Hals gehängt hatte, bewegten sich durch den Schwung und prallten gegeneinander.
Die Wohnung hier bestand aus einem Zimmer. Es war recht groß, so hatte Maria Much auch eine Schlafgelegenheit aufstellen können. Ein Bett hinter dem Vorhang versteckt. In der Nähe des Fensters stand eine Kochplatte, und auf eine Mikrowelle hatte sie auch nicht verzichten können, ebensowenig wie auf den Kühlschrank. Zum Zimmer gehörte noch ein Naßraum mit einer Dusche und einem Waschbecken. Ansonsten hatte Maria Much so viele Möbel wie möglich aus ihrer alten Wohnung mitnehmen können. Sogar von ihren Eltern waren noch Stücke dabei. Die Kommode und die beiden Stühle zeigten den klassischen Jugendstil.
Vor dem recht kleinen Fenster blieb die HorrorOma stehen. Es war nicht nur klein, sondern auch quadratisch und erinnerte mehr an das Fenster einer Dachgaube. Die Räume in dem hier errichteten Altenheim sahen aus, als lägen sie inmitten einer Burgmauer, in die eine Reihe von Fenstern hineingeschlagen worden waren. In der Tat waren sie früher vor dem Ausund Umbau einmal Wirtschaftsgebäude gewesen.
Lady Sarah öffnete das Fenster. Sie hatte nichts gegen eine gewisse Wärme, doch in diesem Fall kam ihr das Zimmer schon überheizt vor. Deshalb war sie froh, die kühle Luft einatmen zu können, die vom Kirchhof zu ihr wehte.
Eigentlich war es eine Burg, die auf dem Michaelsberg stand. Hier hatten früher die Benediktiner gelebt, und auch das Brauereimuseum gehörte noch zur Anlage.
Von bestimmten Stellen hatte der Betrachter von hier oben einen wunderbaren Blick über die Stadt Bamberg mit den alten Häusern, den vielen Brücken, die über die Regnitz führten, und die als zweites Gewässer noch den Main-Donau-Kanal aufwies.
Der Hof war leer. Ihr Blick traf die breite Freitreppe, die bis an das Portal der St. Michaels-Kirche führte mit der Heilig-Grab-Kapelle in ihrem Innern.
Hier oben war es oft windig und während der Sommermonate auch nie so stickig wie zwischen den schmalen Häusern unten am Fluß. An diesem Abend jedoch hatte sich der Wind zurückgezogen, und es wehte so gut wie kein Lüftchen über den Friedhof.
Ein prächtiger Himmel spannte sich über der Stadt. Er war so gut wie wolkenfrei, und darauf malte sich, wie mit Pinselstrichen gezeichnet, der
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