Der Sensenmann
Sarah Goldwyn hatte ihn gesehen, aber Maria hätte nie gedacht, daß Sarah auf diese Art und Weise reagierte. Sie war wie aufgedreht gewesen. Der Anblick des Sensenmanns hatte dafür gesorgt. Sarah war ihr zuvorgekommen, als hätte sie darauf nur gewartet.
Und jetzt suchte sie ihn…
Das war der reine Wahnsinn und die große Selbstüberschätzung zugleich. Wenn er sich im Haus aufhielt, was Maria nicht hoffte, konnte es schlimm für die Freundin ausgehen.
Wahrscheinlich aber würde sie das tun, was Maria nicht gewagt hatte. Sie würde sich an Bobby Eberle wenden und mit ihm über die Erscheinung reden.
Das war nicht gut.
Die beiden anderen Morde waren unten in der Stadt passiert. Natürlich hatten die Zeitungen darüber berichtet, aber nicht über die Hintergründe, denn die sollten im Dunkeln bleiben. Vielleicht wollte man auch nicht mehr an bestimmte Dinge erinnert werden, die vor Jahrhunderten einmal in dieser Stadt passiert waren.
Ja, auch das katholische Bamberg hatte seine Schattenseiten. Da mußte man nur richtig hinschauen.
Maria Much war nervös. Sie ging im Zimmer auf und ab. Des öfteren blieb sie am Fenster stehen, um auf den Burghof zu blicken. Dort war nichts mehr von dem Sensenmann zu sehen. Er mußte in der Nacht untergetaucht sein.
Obwohl das Zimmer recht geräumig war, kam es ihr eng vor. Da gab es die Decke, die ihr leicht auf den Kopf fallen konnte. Das zumindest stellte sie sich vor. Eine Decke, die sich in dunklen Schlamm verwandelte und in der Mitte das bleiche Gesicht des Sensenmanns zeigte, der sie von oben herab böse angrinste.
Sie erschauerte. Maria wollte auch nicht die Glotze einschalten. In letzter Zeit wurde der Zuschauer nur mit den schrecklichen Berichten vom Balkankrieg konfrontiert. Sie konnte das Leid der flüchtenden Menschen nicht mehr sehen, denn auch in Deutschland hatte es einen großen Krieg gegeben. Die Erinnerungen daran waren nach wie vor präsent. Wenn Maria die Balkanberichte sah, kochte alles nur noch stärker in ihr hoch.
Gespendet hatte sie und auch dafür gebetet, daß der verdammte Krieg bald aufhörte.
Nun aber hatte sie ihn vergessen. Es lag an dem Sensenmann, der ihr als andere Bedrohung erschienen war. Sie war nicht so weit entfernt, sie war sogar sehr nahe, und ihr fiel ein, daß Sarah und sie ihn genau erkannt hatten.
Sie waren perfekte Zeugen…
Maria wagte es kaum, den Gedanken weiterzuspinnen. Aber sie stellte sich den Tatsachen. Er war dicht an ihr Fenster herangetreten, er hatte in den Raum hineingeschaut. Er hatte die beiden Frauen beobachten können, und er wußte jetzt, daß sie ihn verdammt genau beschreiben konnten.
Diese Überlegungen sorgten bei Maria für einen Schock, der auch ihr körperliches Wohlbefinden beeinflußte. Sie mußte zu ihrem Sessel gehen und sich erst einmal hinsetzen. Das Herz klopfte viel schneller als gewöhnlich, und sie spielte auch mit dem Gedanken, eine Tablette zu nehmen. Dazu hätte sie aufstehen und sie aus dem Schrank holen müssen, dazu fühlte sie sich nicht in der Lage. Also blieb sie sitzen. So hatte sie das Fenster im Blick, aber auch den Fernseher, wenn sie den Kopf etwas nach links drehte.
Das Zimmer war nach ihrem Geschmack eingerichtet worden. Trotzdem kam sie sich vor wie auf einer Bühne sitzend und in den dunklen Raum vor sich schauend, in dem es nur einen Zuschauer gab – den Sensenmann…
Es gab wohl keine unsichtbaren Augen. Maria fühlte sich trotzdem von ihnen beobachtet. Sie wünschte sich intensiv, daß Sarah Goldwyn so schnell wie möglich zurückkehrte. Noch hörte sie nichts. Im Zimmer war es sehr still, so daß ihr sogar das Ticken der kleinen Wanduhr auffiel, das sie normalerweise nicht hörte.
Sie wartete…
Das Fenster blieb leer. Es schlich keiner mehr daran vorbei. Sie traute sich auch nicht, aufzustehen und es zu öffnen. Da war Sarah viel mutiger.
Dann vernahm sie etwas.
Es war ein Geräusch an der Tür. Bevor Maria näher darüber nachdenken konnte, hörte sie das Klopfen. Über ihre schmalen, von einem Faltenkranz umgebenen Lippen huschte ein Lächeln. Sarah kehrte zurück, früher als sie gedacht hatte.
»Ja, komm rein.«
Die Tür wurde geöffnet. Maria Much lauschte jetzt auf jedes Geräusch. Sie wäre anders in ein Zimmer hineingetreten, das sie kannte. Sarah ging sehr langsam, sie sprach auch nicht, und die Tür hatte sie ebenfalls nicht normal geöffnet.
Ein Luftzug streifte über Marias Nacken hinweg. Sie hatte das Gefühl, von einer kühlen Hand berührt zu
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