Der Sensenmann
Halbmond ab. Er sah so klar und prächtig aus. Wie eine hochkant gestellte Gondel, die den Weg von Venedig bis hierher an den Himmel gefunden hatte.
Die frische Luft war für Lady Sarah wie ein Lungenbalsam. Eine Aussicht auf die Stadt konnte sie nicht genießen. Es reichte ihr, die mächtige Kirche zu sehen, die auch einen Schatten warf. Ansonsten aber stand sie da wie jemand, der die Menschen bewachte, damit ihnen kein Unheil widerfuhr.
Und gerade auf diesem Platz sollte sich der unheimliche Sensenmann gezeigt haben.
Es war normalerweise nicht zu glauben, aber die Horror-Oma hatte im Laufe der letzten Jahre schon zu viele böse Erfahrungen sammeln können. Das lag unter anderem auch an der Detektivin Jane Collins, die mit ihr zusammen in einem Haus wohnte. Zudem war Jane eine Freundin von John Sinclair, dem Geister) äger.
Bei Vollmond wäre es heller gewesen. So aber verteilte sich auf dem Pflaster nur ein schwacher, bleichsilbriger Schein, als hätte eine große Hand mal kurz darüber hinweggestrichen.
Es bewegte sich nichts auf dem Platz. Auch nicht auf der Treppe, die zum Portal der Kirche hochführte. Aus den anderen Fenstern rechts und links drang ebenfalls Lichtschein, der zwar das Pflaster noch erreichte, aber nur wenig Helligkeit brachte.
Und es war still. Da die Bewohner wegen der Kälte die Fenster geschlossen hielten, drang auch kein Laut aus den Räumen nach draußen, weder Musik noch irgendwelche Geräusche aus den Fernsehapparaten.
»Siehst du was, Sarah?«
»Nein, es ist alles normal.«
»Und du hörst auch nichts?«
»Ich muß dich wieder enttäuschen.«
»Nein, nein, ich bin sogar froh. Aber wenn er kommt, hört man ihn nicht. Ich zumindest nicht.«
»Hast du denn auch am offenen Fenster gestanden?«
»Ha, was denkst du von mir? Ich bin zwar alt, aber nicht lebensmüde. Ich habe mich hier in meinem Zimmer zusammengeduckt und gebetet. Ich dachte bei seinem Anblick, daß der Leibhaftige das Höllenfeuer verlassen hat und gekommen ist, um die Kirchen in dieser wunderschönen Stadt zu zerstören oder sich untertan zu machen. Steil dir mal vor, er zerschlägt im Dom mit seiner Sense den Bamberger Reiter. Das wäre ja undenkbar.«
»So weit ist er wohl noch nicht gekommen«, sagte Lady Sarah trocken. Sie beugte sich noch einmal aus dem Fenster. Diesmal weiter, so daß sie den Druck des unteren Rahmens an ihrem Bauch spürte. Sie drehte den Kopf nach rechts, dann nach links, aber auch dort war nichts zu sehen. Niemand bewegte sich durch den aus den Fenster fallenden Lichtschein. Alles blieb still.
Andererseits war es noch früh am Abend. Maria hatte Sarah berichtet, daß die Gestalt mit der Sense nie zu einer bestimmten Zeit erschien. Man konnte mit ihr rechnen, wenn sich die völlige Dunkelheit über das Land gesenkt hatte.
»Du kannst ja in einer halben oder in einer Stunde noch mal nachschauen«, schlug Maria vor. »Ich koche uns inzwischen einen Tee. Oder möchtest du Kaffee?«
»Nein, Tee ist schon recht.«
»Alles klar, Lady«, sagte Maria und wollte sich aus ihrem Sessel erheben. Sie blieb aber sitzen, weil sie die heftige Handbewegung ihrer englischen Freundin gesehen hatte.
»Was ist denn, Sarah?«
»Ich glaube, da bewegt sich was, und das ist kein Tier.« Die Stimme der Horror-Oma hatte seltsam gepreßt geklungen, wie bei jemand, der von plötzlicher Spannung erfaßt wird.
Tatsächlich hatte Sarah etwas gesehen. Sie wußte nicht genau, ob auf der breiten, zum Portal führenden Treppe oder davor, aber in der Dunkelheit malte sich etwas ab, das noch schwärzer war als sie.
Maria Much hielt es nicht mehr im Sessel aus. Sie kam zu Sarah, blieb aber hinter ihr stehen und atmete über deren Schulter hinweg. »Kommt er schon jetzt und…?«
»Pssst … «
»Schon gut. Ich bin eben so aufgeregt.«
Beide Frauen schwiegen jetzt. Sie spürten die Kühle der Nacht so gut wie nicht mehr. Jede von ihnen wußte, daß sich etwas anbahnte, aber noch war es still auf dem Burgund Kirchhof. Das Pflaster schimmerte weiter im schwachen Mondlicht, und aus dem Nebenzimmer hörten sie zum erstenmal Musik.
»Und du hast dich nicht getäuscht?« wisperte Maria ihrer Freundin ins Ohr.
»Nein, das habe ich nicht. Meine Augen sind noch gut. Außerdem hast du selbst davon geredet.«
»Klar.«
Es trat wieder Ruhe ein. Am Fenster ebenso wie draußen. Nur blieb sie dort nicht lange, denn beide hörten plötzlich die anderen Laute. In der Stille möglicherweise verändert, aber sie fanden sofort
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