Der Sensenmann
über sein Kinn. »Jetzt frage ich mich nur, was wir tun sollen.«
»Gar nichts. Nehmen Sie ihn hin.«
»Das ist gut.«
»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«
»Woher denn?«
»Eben. Ich werde jetzt zu meiner Freundin gehen und mit ihr reden. Es kann sein, daß uns etwas einfällt.«
»Was denn?«
»Wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen sagen. Eine Idee habe ich schon. Wir sehen uns sicherlich morgen früh.«
»Bestimmt«, sagte der Heimleiter. Er ging wieder zum Fenster, um nach draußen zu schauen, während Sarah Goldwyn das Büro verließ.
Sie ging einige Schritte und auch die Treppe hoch, dann blieb sie erst einmal stehen und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. Es war keine Einbildung gewesen. Inzwischen war die Gestalt von drei Zeugen gesehen worden. Es gab sie einfach, und sie bewegte sich bestimmt nicht grundlos über dieses Gelände auf dem Hügel hinweg. Sarah war auch nach wie vor fest davon überzeugt, daß sich niemand einen Scherz erlaubt und sich verkleidet hatte.
Zwei Tote hatte es in Bamberg gegeben. Menschen, die unter so rätselhaften Umständen ums Leben gekommen waren, daß die Polizei beinahe eine Nachrichtensperre verhängt hatte. Jedenfalls waren keine Details an die Öffentlichkeit gelangt.
Sie lachte kaum hörbar vor sich hin und dachte wieder daran, welches Schicksal das Leben für sie bereithielt. Immer wieder stolperte sie über Fälle, die mit dem normalen Verstand nicht zu begreifen waren. Dafür war sie prädestiniert. Sie wußte auch, sich genau einzuschätzen. Sie selbst würde den Täter kaum stellen können. Um Sensenmänner oder ähnliche Geschöpfe zu jagen, dafür gab es einen Freund und Spezialisten, der in London lebte und bei Scotland Yard arbeitete. Sarah war sich noch nicht ganz sicher, ob sie den Geisterjäger anrufen sollte, der Gedanke aber hatte sich bei ihr festgesetzt.
Müde fühlte sie sich nicht. Sie wußte schon, daß sie schlecht schlafen würde. Dafür war einfach zu viel geschehen. Ihre Gedanken würden sich ständig um den schwarzen Sensenmann drehen.
Mit langsamen Schritten ging sie durch den Gang und zurück zu Maria Muchs Zimmer. Die arme Freundin hatte lange genug gewartet. Auch sie würde sich wundern, daß es noch einen dritten Zeugen gab.
Vor der Tür blieb Sarah für einen Moment stehen. Als höfliche Person klopfte sie an.
Keine Reaktion.
Mißtrauisch war sie nicht. Mittlerweile war es spät geworden, und sie konnte sich vorstellen, daß Maria bereits zu Bett gegangen war. Sie wollte auch nicht stören und öffnete die Tür sehr leise und behutsam. Das Licht brannte noch, und sie schaute in einen leeren Raum. Das Bett konnte sie sehen, doch da lag Maria nicht.
Dann entdeckte sie die Freundin im Sessel. Der Blick traf die Gestalt von der Seite. Maria bewegte sich nicht. Sie mußte im Sessel eingeschlafen sein und war leicht nach links gekippt. Das Seitenteil hatte sie aufgehalten.
Sarah schloß die Tür leise. Sie ging auf den Sessel zu, kam aber nicht bis an ihn heran, weil sie plötzlich stehenblieb.
Etwas gefiel ihr nicht.
Es war der Geruch und nicht einmal die schlafende Freundin. Schlafend? Daran wollte Sarah nicht mehr glauben. Sie ging mit einem großen Schritt vor, sah Maria von vorn, und dann starrte sie so leblos wie eine Statue all das Blut an, das sich aus der zerfetzten und zerschnittenen Kehle gelöst hatte und in das Kleid gesickert war…
***
Andere Frauen hätten durchgedreht, geschrien und wären unter Umständen verrückt geworden.
Nicht so Sarah Goldwyn. Sie war hart im Nehmen, auch wenn der Schock sie brutal erwischt hatte. Der Anblick ließ sie nicht unberührt. Ihr Gesicht zuckte. Aus den Augen lösten sich Tränen und rannen an den Wangen herab. Sie spürte den Schwindel und mußte sich an der seitlichen Lehne abstützen. Trotzdem blieben die Knie weich, deshalb war es besser, wenn sie sich hinsetzte.
Da blieb sie auch hocken und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Zunächst einmal stellte sie fest, daß sie großes Glück gehabt hatte. Wäre sie noch im Zimmer gewesen, dann hätte es jetzt zwei Tote gegeben. Dafür schätzte sie den Sensenmann ein. Er war einfach ein brutaler Killer und keiner, der nur jemand erschrecken wollte.
Aber mordete er wirklich sinnlos?
Die schreckliche Tat wies darauf hin. Sarah konnte sich beim besten Willen kein Motiv vorstellen, das den Killer veranlaßt haben könnte, eine Frau wie Maria Much so grausam umzubringen. Dann war er einfach jemand, der durch die
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