Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Schnauze einzuschlagen“. Wenige Augenblicke darauf ging Cotteret zu Boden und Petiot rannte in Richtung der Métro-Station Odéon davon.
Am selben Tag rief ein Beamter in seiner Wohnung an. Ein Mann nahm den Anruf entgegen und erklärte, Petiot sei nicht da und schon seit einigen Wochen verreist. Als zwei Beamte bei ihm anklopften, öffnete Petiot die Tür in aller Seelenruhe und erhielt die Aufforderung zu einer Vernehmung am 6. April auf der St. Michel-Polizeiwache. Petiot erschien ebenfalls an diesem Tag, jedoch eine Stunde zu spät. Seine Augen waren rot, der Teint wirkte hitzig-erregt, und es schien so, als hätte er geweint. Er machte einen verwirrten Eindruck. Als ihn der Beamte wegen des Ladendiebstahls befragte, händigte Petiot ihm einen Brief mit der Bemerkung aus, dass sich dadurch alles klären würde.
Dem Dokument zufolge befand sich Petiot in einem totalen Erschöpfungszustand, der von der Arbeit an den neuesten Erfindungen herrührte, darunter eine Pumpe zur Darmmassage, mit der sich eine chronische Verstopfung heilen ließe, und sogar ein Perpetuum Mobile, bei dem er knapp vor der Fertigstellung stehe. Er sei so gedankenversunken, beschäftige sich so sehr mit den Erfindungen, führte er aus, dass er das Einstecken des Buches einfach nicht bemerkt habe. Er habe niemals geplant, das Buch zu kaufen, ganz abgesehen davon, es zu stehlen. Ihm sei der Inhalt doch schon lange bekannt.
Petiot wehrte sich auch gegen die Anzeige wegen tätlichen Angriffs. Zu seiner Weigerung, Cotteret zur Polizeiwache zu folgen, bemerkte er, kein Verbrechen begangen zu haben, und behauptete darüber hinaus, dass seine Familie auf ihn gewartet habe und es schon viel zu spät gewesen sei, als er vor dem Buchladen stehenblieb. Er habe mit dem Angestellten kooperiert, ihm sogar seinen Namen verraten. „Hätte ich ihm meinen Namen nicht verraten, dann wäre ich unauffindbar gewesen.“
Mehr als überrascht von dem Verhalten des Arztes, sowohl vor dem Buchladen als auch auf der Wache, veranlasste der Kommissar eine psychiatrische Untersuchung. Während der medizinischen Begutachtung, die im St.-Antoine-Krankenhaus stattfand, wirkte Petiot auf den untersuchenden Arzt Dr. Michel Ceillier nervös, depressiv und hochgradig instabil. Er hatte Mühe, die leichtesten Fragen zu beantworten, und konnte noch nicht mal den Titel seiner Doktorarbeit nennen. Er „weinte und krümmte sich dabei“ und sprach bei der Beantwortung der Fragen zusammenhanglos, außer bei der Thematik der Erfindungen, die Ceillier aber als bloße Hirngespinste abtat.
Anscheinend litt Petiot unter einer „mentalen Instabilität“, die sich durch „psychische Verwirrung, Anflüge von Depression und der Zwangsvorstellung, ein Erfinder zu sein“ ausdrückte. Er zeigte eine „tiefe Abneigung gegenüber allem, was am deutlichsten durch seinen Hass auf das Leben insgesamt zu belegen war“. Er war, kurz gesagt und seinen Beruf bedenkend, „eine Gefahr für sich selbst und andere“ – laut Gesetz von 1838 ein Kriterium für die Einweisung einer Person in die Psychiatrie.
Auf Basis dieser Einschätzung, datiert auf den 22. Juli 1936, stufte man Petiot bezüglich der Anklage des Ladendiebstahls und des tätlichen Angriffs schuldunfähig ein. Der Arzt empfahl, Petiot in die staatliche Psychiatrie einzuweisen, wenn nötig sogar mit Zwang. Allerdings wurde ihm durch die Fürsprache seiner Frau eine Privatklinik zugestanden. Es war das Maison de Santé d’Ivry, nur wenige Kilometer von Paris entfernt. Der Oberarzt und leitende Psychiater Dr. Achille Delmas überwachte höchstpersönlich die Behandlung. Ihm eilte der Ruf voraus, sich gegenüber den Patienten nachsichtig und freundlich zu verhalten. Er nahm sich auch der Behandlung von Antonin Artaud an, einem surrealistischen Lyriker, und von James Joyces Tochter Lucia, die an Schizophrenie litt und die man dort während Petiots Aufenthalt einwies. Petiot wurde am 1. August 1936 aufgenommen.
Wie das Dossier mit der Nummer 363.831 enthüllte, diagnostizierte Dr. Delmas den neuen Patienten als zyklothym, was bedeutete, dass er an einer leichten manisch-depressiven Psychose litt. Delmas konnte beobachten, wie Petiot zwischen den Polen tiefer Depression und hyperaktiver Erregungszustände alternierte. Während einer Depression quälten ihn Angstzustände, Schlaflosigkeit und starker Lebensüberdruss mit einem übermäßigen Bedürfnis, „seine vergangenen Taten zu rechtfertigen“. Während einer manischen Phase
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