Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Gedicht. Die Zeilen waren eine direkte Anspielung auf eine Arbeit des Autors Robert Brasillach (inhaftiert wegen des Vorwurfs der Kollaboration), die in jenem Herbst in französischen Gefängnissen die Runde machte. Allerdings wurde dadurch auch Petiots makabere Gedankenwelt mehr als deutlich:
Wie wunderbar wäre es, eine Stadt voller Bewaffneter zu sehen,
die schreien „Holt euch die Bastarde“ oder, ohne Vorankündigung,
das Gericht stürmen. Doch wichtiger wäre es,
diesen oder jenen die Haut vom Leibe zu reißen.
Es wäre so schön, ihrem langsamen und qualvollen Tod beizuwohnen,
und zehn Jahre lang die Haut von zehn Richtern zum Verkauf feilzubieten.
Ein Gefangener am entgegengesetzten Ende des Flurs machte den Vorschlag, nicht die Richter zu häuten, sondern eine andere Person. „Wenn Petiot seine gerechte Strafe erhält“, brüllte der Mann aggressiv, „wird man ihn wie eine Wurst in kleinste Scheiben schneiden.“
Ein anderer Gefangener, den später ein Reporter des France-Soir befragte, beschrieb den Arzt als „sehr kultiviert und intelligent. Er verfügt über ein klares Urteilsvermögen und belegt die Klugheit durch seine Lieblingsautoren: Voltaire, Beaumarchais und Anatole France. Er verabscheut den (Mediziner-)Kollegen Céline, den er für einen Wahnsinnigen hält und dessen skatologische Prosa ihn abstößt.“ Man schrieb Petiot einen besonderen Trick zu, durch den er mit den Mitgefangenen kommunizierte. Um sich auf dem Laufenden zu halten, tauschte er mit diesen kleine Papierschnipsel mit den aktuellen Nachrichten aus, die in Broten versteckt waren. Am 12. April 1945 etwa erzählte Petiot Berichten zufolge einem Wachmann vom Tod Franklin D. Roosevelts, der davon noch gar nicht gehört hatte.
Insgesamt vermied Petiot jedoch den Kontakt mit den anderen Gefangenen. Nézondet, der aufgrund einer vermuteten Komplizenschaft in einer anderen Zelle saß, behauptete, Wachen bestochen zu haben, um mit Petiot bei Rundgängen im Garten zu reden. „Ich habe niemals auch nur den Hauch einer emotionalen Regung in seinem Gesicht beobachtet“, erklärte Nézondet. „Er vermittelte den Eindruck, als würde ihn sein zukünftiges Schicksal nicht im Geringsten interessieren.“
Wenige Tage nach der Ankunft in La Santé rasierte er sich den Bart ab und begann die Arbeit an einem Manuskript, auf die er den Großteil der Zeit im Gefängnis verwandte. Es war ein bizarres Buch. Statt sich direkt mit der zu erwartenden Mordanklage auseinanderzusetzen, konzentrierte sich Petiot auf Tipps, wie man die Chancen bei Glückspielen erhöhte – von Poker bis hin zur Lotterie und vom Roulette bis hin zu Pferderennen. Trotzdem bot die Beschäftigung mit Zahlenreihen, astrologischen Symbolen und manchmal sogar surrealen Notizen eine Einsicht in Petiots Gedankenwelt.
Seiner Auffassung nach streunten Menschen, die er als belebte Fleischklumpen beschrieb, durch eine Welt, die zu einem „Konzert der Verbitterung“ degeneriert war: „Nicht ein einziges Objekt der Schöpfung ist mit seinem Schicksal zufrieden. Der Stein ist traurig, weil er an die in der Sonne stehende Eiche denkt. Die Eiche ist traurig, weil sie an die Tiere denkt, die durch den schattigen Wald rennen. Das Tier ist traurig, weil es den Adler beneidet, der sich in den blauen Himmel erhebt. Der Mensch ist traurig, weil er seine Rolle in der Welt nicht versteht und all seine Unzulänglichkeiten erkennt.“
„Das ist ein ernsthaftes Buch, das ich zu meinem Amüsement verfasse“, schrieb Petiot in kleinen, deutlichen und schnörkellosen Kursivbuchstaben. „Bei einer ernsthaften Lektüre werden Sie sich amüsieren und sicherlich etwas lernen.“ Er widmete das Manuskript, „denen, die mir diese Muße ermöglichen …“. Für die Recherche verantwortlich war: „Doctor EUGENE, ehemals Anführer der Résistance-Gruppe FLY-TOX.“ Die Zahlenreihen waren mithilfe von Capitaine Valeri erstellt worden. Für die Fehler zeichnete Marcel Petiot verantwortlich. Der Titel des 360-seitigen Buchs lautete Le Hasard vaincu oder Das Schicksal schlagen .
Was nach allgemeiner Auffassung als Zufall oder Schicksal verstanden wurde, war für Petiot tatsächlich eine Illusion. „Es gibt keine Zufälle“, sondern nur „Möglichkeiten, die bestimmten Gesetzen unterworfen sind“. Diese Gesetze konnten mit Vernunft und der Anwendung bestimmter Denkmuster ergründet werden, da – so schrieb er – „jede Wirkung auf einer Ursache beruht. Allen Auswirkungen liege eine
Weitere Kostenlose Bücher