Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Telegramm von Pierre Mendès-France, dem zukünftigen Premierminister, der zu der Zeit als Charles de Gaulles Wirtschaftminister gedient hatte. Nach einer dramatischen Flucht aus einem Vichy-Gefängnis war Mendès-France den Freien Französischen Kräften in Großbritannien beigetreten. Mendès-France hatte sich zu der Zeit des Prozesses auf einer Dienstreise in New York befunden und die ehemaligen Kameraden leidenschaftlich verteidigt: „Ich musste voller Erstaunen erfahren, dass PETIOT ES TATSÄCHLICH GEWAGT HATTE, DIE ERINNERUNG AN YVAN DREYFUS ZU BESCHMUTZEN.“ Diese Behauptungen seien „für jeden unvorstellbar, der Dreyfus’ Charakter schätzte, seinen Mut und Patriotismus“. Wie einige Zuschauer bemerkten, habe Petiot mit einem Gesichtsausdruck in den Saal geschaut, der zwischen Langeweile und Verachtung geschwankt habe.
Dann betrat Paulette Dreyfus den Zeugenstand. Sie trug ein schwarzes Trauerkleid, einen schwarzen Schleier und eine Perlenkette. Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeugen schaute Dreyfus bei ihrer Aussage nicht in Petiots Richtung, der merkwürdigerweise kein einziges Wort äußerte.
Dreyfus berichtete mit zitternder Stimme, wie ihr Mann das besetzte Frankreich verlassen wollte, um sich de Gaulle in London anzuschließen. Sie berichtete von seiner Gefangennahme, der Haft in Compiègne, der Angst vor einer Deportation nach Drancy, gefolgt von der scheinbar nicht enden wollenden Reihe von Verhandlungen um die Freilassung. Letztendlich hätten die Deutschen Dreyfus zur Unterschrift der Gestapo-Dokumente gezwungen. „Ich war entsetzt“, erläuterte die Witwe. „Die Freilassung sollte an keinerlei Bedingungen geknüpft sein.“
Darauf berichtete sie vom Rechtsanwalt Jean Guélin, der nach Zahlung des Lösegelds trotzdem eine „letzte Bedingung“ eingefordert habe, die ihr Mann im Hauptquartier der Gestapo erfüllen habe müssen. Er habe das Haus mit dem Rechtsanwalt verlassen. Sie habe ihn nie wieder gesehen.
„Trug ihr Mann Koffer oder Reisegepäck bei sich?“
„Nein, Guélin kümmerte sich um das Gepäck und lieh sich einige Gegenstände“, sagte Dreyfus, wobei sie unweigerlich die Behauptung der Verteidigung untermauerte, dass die Gestapo Petiots Organisation habe infiltrieren wollen. Floriot hatte schon längst bewiesen, dass das erste von Dreyfus unterzeichnete Dokument ihn verpflichtet hatte, in keinerlei Hinsicht gegen das Dritte Reich zu agieren. Nun fragte er sie bezüglich des zweiten Dokuments. Unglücklicherweise fiel die Antwort der Witwe eindeutig zugunsten der Verteidigung aus. „Er verpflichtete sich, Informationen über die Fluchthilfeorganisation zu beschaffen.“
Wie Madame Dreyfus so empfand auch Fernand Lavie Dr. Petiots Behauptung, dass er nur „Deutsche, berüchtigte Kollaborateure, Gestapo-Männer und sogenannte Lockvögel“ getötet habe, als eine Ungeheuerlichkeit. Seine Mutter war umgebracht worden – so hatte er es schon früher gegenüber der Polizei erklärt –, weil sie sich geweigert habe, „entweder durch Stillschweigen oder Aussagen ein Komplize bei Dr. Petiots Drogengeschäften zu werden“. Lavie hatte als Nächster den Zeugenstand betreten.
Er beschrieb den Hintergrund des Falles, angefangen bei der Verhaftung der Halbschwester wegen gefälschter Rezepte bis hin zu den merkwürdigen Postkarten, die angeblich von seiner Mutter stammten und in denen sie gegenüber ihrer Familie die plötzliche Abreise in die unbesetzte Zone rechtfertigte. „Meine Mutter hatte niemals die Absicht, uns zu verlassen“, sagte Lavie, und wies darauf hin, dass sie weder persönliche Habseligkeiten noch Geld mit sich genommen hatte.
Floriot erinnerte das Gericht an die Aussage von Khaïts Mann David, der an die Authentizität der Schriftstücke geglaubt und zugegeben hatte, dass seine Frau schon vorher ihr Interesse an einer Flucht aus Paris bekundet hatte. David Khaït konnte nicht in den Zeugenstand gerufen werden. Die Deutschen hatten ihn im Juni 1944 verhaftet und deportiert. Er war nie wieder zurückgekehrt.
„Wissen Sie“, begann Floriot die nächste Attacke auf den Zeugen, „dass Ihre Mutter im Juni 1943 von drei Zeugen erkannt wurde, darunter ein Angestellter der Eisenbahn?“ Der Zeitpunkt lag 15 Monate nach ihrem Verschwinden.
Lavie hatte nichts davon gehört.
„Suchte Ihre Mutter nicht den Rechtsanwalt auf, um bei ihm einen Brief zu hinterlegen? Zumindest behauptete das Ihr Vater.“ Ein Dienstmädchen in dem Haus der Anwaltskanzlei hatte
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