Der Serienmörder von Paris (German Edition)
das Dossier, geschlossen im April 1945, zu suchen und in den Gerichtsaal zu bringen. Doch im Moment verfestigte sich der Eindruck, dass Kahan eine Gestapo-Agentin gewesen war. Marcel Petiot hatte sich die ganze Zeit über ungewöhnlich ruhig verhalten. Der Richter erkundigte sich, ob er noch Fragen habe. Ja, die habe er. Nachdem er sich nach dem Gepäck der Familien Wolff und Basch erkundigt und die Zeugin darum gebeten hatte, ihre finanzielle Situation zu umreißen, schien Petiot sich speziell für die Behauptung von Cadoret zu interessieren, er habe dreckige Fingernägel gehabt. Er fragte Kahan, ob sie das auch bemerkt habe.
„Ich habe nicht auf Ihre Hände geachtet“, antwortete sie. „Sie interessieren mich nicht.“
Möglicherweise seien sie dreckig gewesen, spekulierte Petiot. Als er Kahan in der Rue Pasquier besucht hatte, habe er sich aus irgendeinem Grund bedroht gefühlt und oft die manuelle Gangschaltung am Hinterrad des Fahrrads gewechselt, um eine schnelle Flucht zu garantieren. Ein Großteil des Publikums konnte sich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Frankreichs angeblich brutalster und gefährlichster Serienmörder behauptete, Angst auf einer belebten Straße gehabt zu haben?
„Und falls ich dreckige Hände hatte“, brüllte Petiot, „habe ich sie niemals beschmutzt, indem ich sie bei einem Eid auf den Verräter Pétain erhoben habe.“
„Ich verbiete Ihnen diese Unverschämtheiten“, verwarnte Leser den Angeklagten.
„Gegenüber wem?“, lachte Petiot. „Pétain?“
Leser erinnerte das Gericht, dass man von Richtern während der Besatzung verlangt hatte, einen Fahneneid gegenüber den deutschen Behörden abzulegen. Der Act Constitutionel Nr. 9, verfasst am 4. April 1941, hatte das Ritual zum verbindlichen Gesetz erklärt. Petiot erwähnte eine Person, die sich der Anordnung verweigert habe, nämlich Paul Didier, ein Richter, der den Posten aufgrund seiner Prinzipien verloren habe.
Nach dem kurzen Zwischenfall entließ Leser die Zeugin. Jean Galtier-Boissière, der im Publikum saß, empfand die Frau als faszinierend und zugleich verwirrend. „Plagte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie drei jüdische Familien, die ihr vertraut hatten, an einen Mörder vermittelt hatte?“ Oder hatte sie vielleicht den Deutschen gedient und fürchtete sich nun aus diesem Grund? Nachdem er ihrer Zeugenaussage während der letzten zwei Stunden wie gebannt gelauscht hatte, konnte er sich nicht zwischen „den beiden gleichermaßen plausiblen Hypothesen“ entscheiden.
Die Staatsanwaltschaft schloss den Prozess, indem sie einige weitere Zeugen aufrufen ließ, die belegten, dass die Wolffs, die Baschs und die Schonkers nicht für die Gestapo geschnüffelt haben konnten. Drei Hoteliers aus dem Bezirk Saint-Sulpice gaben zu Protokoll, dass jede der Familien vor den Nazis nach Frankreich geflohen sei und sich wieder auf die Flucht begeben wollte. Auf der dramatischen Suche nach einem sicheren Fluchtort stellte Dr. Petiot die wohl denkbar schlechteste Alternative dar.
DIE INTERNATIONALE PRESSE VERSTEHT ANSCHEINEND DAS FRANZÖSISCHE RECHT NICHT.
(Alex Ancel, Parisien Libéré , 31. März 1946)
D urch Floriots unerbittliche und wütende Angriffe bei der Befragung am elften und zwölften Tag des Prozesses stellte sich die Frage, ob die Wahrung der Ehre eines Zeugen oder Opfers nicht die Frage nach Petiots Schuld überlagerte. Der Verteidiger hatte die Staatsanwaltschaft geschickt ausmanövriert, die krampfhaft versuchte, das Offensichtliche herauszustellen. Im Fall Dreyfus bedeutete das die Klärung seiner Rolle als Patriot, der gezwungen worden war, zwei Dokumente zugunsten des Dritten Reichs zu unterzeichnen. Die Verteidigung versuchte den Beweis umzudrehen und zu belegen, dass Dreyfus ein Verräter war, der Petiots Résistance-Organisation infiltrieren und unterwandern wollte.
Nachdem der Funk- und Fernmeldetechniker Jean-Claude Stern im Sinne von Dreyfus’ Patriotismus ausgesagt hatte, bestätigte auch ein mit ihm in Compiègne einsitzender Elektriker namens Marcel Berthet dessen Glaubwürdigkeit. „Wir respektierten Yvan Dreyfus als den wohl zuverlässigsten Widerstandskämpfer. Ich bin sehr daran interessiert, das an diesem Ort in aller Deutlichkeit zu unterstreichen.“ Zu den Höhepunkten der Aussage zählte ein Bericht, wie Dreyfus und einige andere Gefangene einen Tunnel gegraben hatten und es ihnen beinahe gelungen war, aus dem Lager zu fliehen.
Maître Véron verlas anschließend ein
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