Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Zeugenaussagen der vermeintlichen Komplizen und verdächtigten Anwerber bestimmten den Prozessverlauf am zehnten Tag. Als sich Eryane Kahan in den Zeugenstand begab, strahlte sie exakt den Glamour aus, von dem die Zeitungen berichteten. Die große Frau mit erdbeerrotem Haar trug einen braunen Damenanzug mit weit geschnittenem Kragenaufschlag, darunter einen Pullover mit Rundhalsausschnitt, dazu lange Seidenhandschuhe und einen modischen, schräg aufgesetzten Hut mit Otterpelz. Sie trug eine schicke Handtasche bei sich und schritt langsam in den vorderen Teil des Saals. Mit den dunklen getönten Gläsern der Sonnenbrille ähnelte sie einer Greta Garbo, die unerkannt bleiben wollte. Jeder hätte ihr Alter auf 25 oder 30 Jahre geschätzt, obwohl sie tatsächlich schon 50 war. Die mysteriös anmutende Frau wurde verdächtigt, dem Netzwerk neun Menschen zugespielt zu haben, alles Angehörige des jüdischen Glaubens, wie sie selbst auch. Die Verteidigung wollte aufzeigen, dass sie für die Gestapo spioniert hatte und Petiot nur deshalb Verräter vermittelt hatte, um die Organisation zu infiltrieren. Die Staatsanwaltschaft bezog hingegen die Position, dass die Frau aus mehreren Motiven heraus gehandelt habe, beginnend bei Profitgier bis hin zur altruistischen Hoffnung, dass sie verzweifelten Menschen bei der Flucht vor den Nazis half. Die Strafverfolgung kategorisierte sie nicht als Kollaborateurin. Das Publikum und die Geschworenen hingen bei jedem Wort förmlich an den Lippen dieser wichtigen Zeugin.
Als Kahan mit ihrer Zeugenaussage begann, sah man ihr die Nervosität deutlich an. Mit einer rauen Stimmen und einem starken slawischen Akzent beschrieb sie die erste Begegnung mit Dr. Petiot. Ihr Geliebter Dr. Saint-Pierre habe den Kontakt hergestellt, ein Arzt, bekannt für seine kriminelle Klientel und die erstklassigen Verbindungen zum Untergrund. Das Treffen habe in einem Hinterzimmer von Fourriers Friseursalon stattgefunden, wo „Dr. Eugène“ sie nach „der aktuellen Situation meiner Freunde und von mir“ befragt habe. Kahan gestand beim Prozess, die Familien Wolff, Basch und Schonker der Organisation vermittelt zu haben. All diese Menschen hätten sich, ihrer Meinung nach, deshalb überglücklich geschätzt.
Angesichts der negativen Darstellung der Verteidigung wollte Leser wissen, ob die Familien tatsächlich in Opposition zu den Nazis gestanden hätten.
„Sicherlich, Monsieur Président“, antwortete Kahan. „Sie waren nicht nur gegen die Nazis, sondern lebten in ständiger Panik vor einer Verhaftung. Hinsichtlich ihrer Gesinnung gibt es gar keine Zweifel.“ Jede Familie sei so froh gewesen, endlich das besetzte Paris zu verlassen, dass sie Petiot „als ihren Gott“ angesehen hätten. Sie habe den selbstlosen Franzosen unter großem persönlichen Risiko an andere Juden weiterempfohlen, die nicht gewusst hätten, wie sie sich aus ihrer Zwangslage befreien sollten. Ein im Publikum sitzender Journalist beobachtete den Angeklagten, der bei diesen Worten nicht mehr wie ein Abwesender auf die Decke starrte, sondern den Eindruck erweckte, als würde er plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust bemerken.
Kahan äußerte, sie habe den Wunsch verspürt, die Stadt zu verlassen, doch Petiot habe sich dagegen gesträubt, da sie der Résistance angeblich so wichtige Dienste erweise. „Nun ist mir klar, was für eine wunderbare Marionette ich gewesen bin.“
Dann fuhr Kahan fort und erzählte, wie sehr sie Dr. Eugène für die patriotische Arbeit zugunsten der Résistance verehrt habe. Als die von Gerüchten umrankte Geschichte Petiots im März 1944 ans Tageslicht gekommen war, habe sie keinen Zusammenhang herstellen können. Sie habe bis zu dem Zeitpunkt seinen richtigen Namen nicht gekannt und ihn lediglich Dr. Eugène genannt. All das Gerede über „Injektionen, Nachtclubs, Drogen und freizügige Frauen“ habe rein gar nicht zu dem ihr bekannten Mann gepasst, der „ernsthaft, ausgeglichen, in sich ruhend und vernünftig“ erschienen sei. Erst als sie sein Foto auf der Titelseite einer Zeitung entdeckte, habe sie die schreckliche Wahrheit erkannt.
Auf die Frage, warum sie als angeblich Unschuldige nicht direkt zur Polizei gegangen sei, um die Geschichte anzuzeigen, erinnerte Kahan die Staatsanwaltschaft daran, dass eine Jüdin während der Besatzung wie „ein wildes Tier gejagt“ worden sei. Zu einem gewissen Zeitpunkt habe sie wohl mit dem Gedanken gespielt, sich zu melden, wovon ihr aber der
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