Der Serienmörder von Paris (German Edition)
verschiedene Gifte. Wenn die Menschen, denen er an den antiquarischen Buchständen am Ufer der Seine begegnete, seine Gedanken hätten lesen können!
Als Ermittler der Mordkommission war Massu fest davon überzeugt, dass „ein kleines, bislang unbeachtetes Beweisstück besser sein kann, als Tausende von Ideen“. Oft verließ er das Büro, getrieben von einem unerklärlichen Drang, den Tatort aufzusuchen, oder, wie er es nannte, „um mit den Wänden zu reden“. Auf dem Weg dorthin traf er ständig auf Schaulustige, die förmlich darum bettelten, dass man sie ins Haus ließ. Die meisten von ihnen – und davon war er fest überzeugt – wären nach fünf Minuten in Ohnmacht gefallen.
Massus Sohn Bernard begleitete ihn weiterhin. „Er war jung, und ich hatte die Erfahrung“, sagte der Kommissar, sich klar darüber, dass durch das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher Perspektiven wertvolle Einsichten gewonnen werden konnten. Doch noch ein weiteres Charakteristikum begeisterte Massu an seinem Sohn: Wenn es darum ging, offene Fragen zu beantworten, „war er ungeduldig wie ein junger Hund“. Zur Lösung der schwierigen Aufgabe war es unabdinglich, die Methode zu ermitteln, mit deren Hilfe es dem Mörder gelang, seine Opfer in ein Haus zu locken, in denen ihnen eine Odyssee des Grauens bevorstand – das dreieckige Zimmer, der Seziertisch in der Kellerküche, der Ofen im Keller und die Löschkalkgrube.
Während einer Tatortbegehung mit seinem Sekretär Canitrot, Oberinspektor Battut, dem Gerichtsmediziner Dr. Paul, dem Magistrat Georges Berry und einigen Inspektoren mussten die Ermittler an einer Menge von rund 100 Schaulustigen vorbeifahren, die sich auf dem Bürgersteig drängten. Der makabere Rundgang begann bei der Grube, die trotz der Tatsache, dass die Totengräber die menschlichen Überreste schon geborgen hatten und die Feuerwehr auf Massus Anweisung hin für eine gute Durchlüftung des Droschkenhauses sorgte, immer noch den Geruch des Todes verströmte. Das Team der Gerichtsmediziner hatte schon den Boden der Grube ausgekratzt und dabei einen verklumpten Schleim aus „Knochen und Muskelfasern“ geborgen.
Massu führte die Inspektoren in den dreieckigen Raum oder das „Folterzimmer“, wie es die Presse nannte. Die Tapete war entfernt worden, um die dicken Wände gründlich nach möglichen Gucklöchern oder Zugängen zu Geheimzimmern abzusuchen. Massu meinte voller Ironie, den unheimlichen Raum mittlerweile besser als sein Schlafzimmer zu kennen. Na ja, bis auf die Tatsache, dass er dessen Bedeutung noch nicht vollständig verstand, war das fast richtig.
Um den Lumvisor-Spion zu demonstrieren, benannt nach der deutschen Firma, die ihn herstellte, bat Massu den Sekretär, sich in die Nähe zweier Eisenhaken zu stellen, also exakt ins Blickfeld, und ging daraufhin in den angrenzenden Raum. Das Loch befand sich knapp über Massus Kopf, doch wenn er sich auf die elektrische Heizung stellte, konnte er in die Linse blicken. Er schaute direkt in das Gesicht des Sekretärs. Als er den Blickwinkel überprüfte, stellte Massu fest, dass er sich nur um wenige Zentimeter in beide Richtungen änderte. Massu stellte sich das Opfer vor, unfähig sich zu bewegen, möglicherweise mit Drogen vollgepumpt, dort an den eisernen Haken hängend, während der Doktor jede Regung im Gesicht, vergrößert durch den Spion, beobachtete.
Ein begleitender Richter wollte wissen, wie Petiot die Opfer umbrachte. Der Kommissar erklärte ihm, dass die Polizei bislang keine Blutspuren in dem Raum entdeckt habe und die Gerichtsmediziner auch keine Beweise gefunden hätten, die auf einen Tod durch Erstechen, Erschießen oder Strangulation hindeuteten. Massu spekulierte auf Gift, möglicherweise unter dem Vorwand injiziert, dass es sich um ein Anästhetikum oder ein Medikament handle. Doch ohne innere Organe und verwertbare Gewebeproben war es für die Toxikologen unmöglich, solche Stoffe nachzuweisen. Gab es möglicherweise eine neue, von Petiot angewendete Tötungsmethode, die noch nicht entdeckt worden war? Massu befand sich noch immer an einem Punkt der Ermittlung, der diese – wie er es selbst manchmal ausdrückte – „auf reine Hypothesen reduzierte“.
Eine Amtsperson erkundigte sich nach den letzten Minuten im Leben der Opfer, in denen der Überlebensinstinkt dominierte und die Kontrolle über alle Handlungen übernahm. Resultierte das nicht in einem letzten, verzweifelten Versuch, sein eigenes Leben zu retten? Doch in
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