Der Serienmörder von Paris (German Edition)
sondern es in den Oberschenkel des Körpers zu stecken.“
Paul observierte solche Einstichmale sowohl beim ersten Leichenfund im Mai 1942 als auch bei den folgenden Leichtenteilen aus der Seine. Am 4. Oktober 1942 wurden sogar vier Oberschenkel mit diesen Anzeichen geborgen. Auch waren diese Male in den „Fleischfetzen“ nachweisbar, die man ihm aus der Löschkalkgrube gebracht hatte. Er traute sich angesichts dessen zu, die Arbeit ein und derselben Person daraus ableiten zu können, die „Handwerkskunst“ eines hervorragend ausgebildeten Arztes, der zudem über ein spezielles Talent verfügte, seine Spuren zu verwischen.
Während sich die Polizei im Gebäude in der Rue Le Sueur umschaute, hatten sich zahlreiche Reporter zur Menge der Schaulustigen außerhalb des Hauses gesellt, die laut Massu das Beinhaus wie eine „dunkle Wolke von Moskitos“ umschwärmten. Sie konnten es kaum erwarten, den Kommissar mit Fragen zu bombardieren. Um wie viele Opfer handelte es sich bei diesem Fall? Waren es tatsächlich 50 Tote, wie einige Zeitungen berichteten? Gab es eventuell noch Komplizen, und wenn ja, wie viele? Was sollte mit Madame Petiot geschehen? Konnte der Kommissar bestätigen, dass der Mörder seine Opfer skalpiert und seinen Keller mit einem schrecklichen, an der Wand angebrachten Kranz aus Totenköpfen dekoriert hatte?
War Petiot tatsächlich im Besitz eines handgefertigten Exemplars von Marquis de Sade [gemeint sind Die 120 Tage von Sodom , A. T.], eingebunden in menschlicher Haut? Und wie sah es mit dem Gerücht aus, dass Petiot, kurz bevor er sich der Opfer entledigte, eine schreckliche und furchteinflößende Kunststoffmaske aufsetzte? Die Journalisten, einzig und allein darauf bedacht, jede nur erdenkliche Information zu ergattern und sei sie auch noch so klein, blockierten Massus Weg zum Auto. Er hatte das Gefühl, als werfe er den Tauben außerhalb Notre Dames Brotkrumen zu.
„Werden Sie schon morgen den Doktor verhaften?“, fragte ein besonders provokanter Berichterstatter. Wo steckte Petiot und warum hatte man ihn bis jetzt noch nicht gefunden? Die Presse, ungeduldig, nähere Details zu erfahren, übte einen ungewöhnlich hohen Druck auf die Mordkommission aus. Ganz Paris verzehrte sich nach der Horrorgeschichte aus dem Herzen des noblen und schicken Stadtviertels. Im Gegensatz dazu verhielten sich die deutschen Behörden vergleichsweise zurückhaltend. Nach der ersten Anweisung, Petiot verhaften zu lassen, hatte die Gestapo die Ermittlungen weder blockiert noch unterstützt oder sich auf irgendeine Art in die Suche eingemischt. Wie sich aber herausstellte, hatte eine Unterabteilung der Gestapo eine dicke Akte über Marcel Petiot angelegt. Am 15. März 1944 wurde das Dossier Kommissar Massu übergeben.
ER HATTE DAS GEFÜHL, SCHON BALD ERSCHOSSEN ZU WERDEN. IN DIESEM FALL GAB ES NUR EINES, WAS ER BEREUEN WÜRDE: NICHT GENUG GETAN ZU HABEN.
(Renée Guschinow bei der Schilderung eines Gesprächs mit Marcel Petiot)
D ie Gestapo hatte von Marcel Petiot gewusst – das war klar. Wie Massu nun zu seinem großen Erstaunen erfuhr, verdächtigte ihn die deutsche Geheimpolizei der Leitung einer Geheimorganisation, die Juden, abgeschossenen Piloten der Alliierten und Deserteuren der Wehrmacht dabei half, aus dem besetzten Paris zu entkommen. Dem Bericht eines der ungefähr 20.000 Pariser Informanten nach operierte die geheime Verbindung von einem in der Rue des Mathurins Nummer 25 gelegenen Schönheitssalon aus, einer Straße, bekannt für ihre Theater und Bordelle, die ganz in der Nähe der großen Kaufhäuser wie den Galeries Lafayette und Printemps auf dem Boulevard Haussmann lag.
Raoul Fourrier, ein kleiner, untersetzter 61-jähriger Friseur und Perückenmacher, leitete den mit der verblassenden Eleganz einer vergangenen Ära eingerichteten Salon. Sein Freund, der 56-jährige Visagist und ehemalige Kabarettkünstler Edmond Marcel Pintard, assistierte ihm dabei. In seinen Glanzzeiten war er unter dem Künstlernamen Francinet aufgetreten und hatte sogar einige Nebenrollen in Stumm- und frühen Tonfilmen gespielt. Pintards Aufgabe bestand darin, sich in Bars, Cafés und Nachtclubs nach Personen umzusehen, die interessiert waren, aus dem von den Nazis besetzten Paris zu flüchten. Nachdem er den Kontakt hergestellt hatte, gab er potenziellen Kunden die Adresse des Friseursalons, wo man dann die Details der Flucht arrangierte.
Man hegte den Verdacht, dass sowohl Fourrier als auch Pintard unter der
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