Der Serienmörder von Paris (German Edition)
verkleide, was den Fund der Blusen, Röcke und Unterwäsche in den Schränken der Rue Le Sueur in einem neuen Licht erschienen ließ. Andere wiederum glaubten, dass er sich des Zugriffs durch die Polizei entzog, da er bei einem Geliebten (!) wohne, einem „Bruder der Freimaurer“, oder sich – wie es die Presse ursprünglich annahm – bei einer Gruppe der Résistance auf dem Lande verbarg. Es gab verschiedene Leute, die solche Theorien aufgrund der jahrelangen Pressemanipulation für abwegig hielten. Sie waren der Überzeugung, dass Petiot schon längst in Vichy verhaftet worden oder nichts anderes als eine Erfindung der Deutschen war, die damit von den Entbehrungen und Erschwernissen eines Lebens im Krieg ablenken wollten. Bezugnehmend auf die Gerüchte schrieb der Schriftsteller Léon Werth am 29. März 1944 in sein Tagebuch: „Er ist ein Mythos, inspiriert durch den Fall Landru. In der Rue Le Sueur wurde noch nicht mal der Schatten einer Leiche erblickt.“
Während die Polizei von einer Stolperfalle in die nächste tappte und dabei Petiot anscheinend keinen Zentimeter näher kam, bot der berühmte Krimiautor Georges Simenon, Erfinder des Inspektor Maigret, seinem alten Freund Massu seine ermittlungstechnischen Fähigkeiten an. Und das konnte möglicherweise hilfreich sein, denn die französische Polizei wirkte ratlos und schien dringend Unterstützung zu benötigen. Offenbar führte Petiot sie an der Nase herum. War er tatsächlich die Person, die den Behörden kryptische Hinweise hinsichtlich seines Aufenthaltsorts schickte oder provozierende Bemerkungen wie „Petiot, er rennt, er rennt, doch wohin rennt er?“. Massu war davon überzeugt.
Schnell stürzte sich auch die internationale Presse auf die Geschichte. In der Schweiz, in Belgien und in Skandinavien dominierte der Fall Petiot die Schlagzeilen, beinahe schon tagtäglich. In der Ausgabe vom 27. März 1944 thematisierte sogar das Time- Magazin die Morde vermittels „tödlicher Injektionen“, bei denen die Opfer „an die Wände einer schalldichten Todeszelle gekettet wurden“ und der Mörder „das letzte qualvolle Aufbäumen durch ein Guckloch“ beobachtete. Im Artikel hieß es weiter: „In den kalten Zimmern und überfüllten U-Bahnen lasen sowohl Büroangestellte als auch Verkäuferinnen die blutrünstigen Einzelheiten. Feiste Schwarzmarkthändler und ihre pompös herausgeputzten Liebchen tratschten bei Champagner und Kaviar über die sadistischen Einzelheiten.“
Wie das Time- Magazin korrekt bemerkte, „verdrängte“ das Schlachthaus in der Rue Le Sueur „die Kriegsnachrichten aus den Schlagzeilen“.
Auch im Kabarett verarbeiteten die Künstler die gruseligen Details der Morde. Ein Bonmot lautete: „Madame, ihre Knochen brauchen mehr Kalk“. Das Stück Die Frau im Foyer , die Geschichte des „lebenden Äquivalents von Jekyll und Hyde“, ließ die Pariser – wie Steward Robertson von der St. Petersburg Times bemerkte – „erschauern, was nur noch von dem Bombenhagel der Alliierten übertroffen werden konnte“. Niemand kannte das ganze Ausmaß der Verbrechen, doch Paris war schon längst von der Petiot-Manie ergriffen. „Wird Dr. Petiot gefasst?“, lautete die Schlagzeile des Paris-Soir am 18. März 1944, was im darauffolgenden Artikel eher abschlägig beantwortet wurde.
„Wer hätte das für möglich gehalten?“, fragte sich die Concierge Raymonde Denis, als Massu und einer der Beamten zum Appartement des Verdächtigen zurückkehrten. Petiot war doch „so nett, so liebenswert“, angeblich der denkbar angenehmste Mitbewohner. Denis konnte es immer noch nicht fassen. Massu murmelte etwas davon, dass es gut möglich sei, jahrelang in der Nähe eines Menschen zu leben, der dunkle Geheimnisse verberge, doch die Concierge ließ sich nicht von ihrer Meinung über den angeblichen Mörder abbringen.
Nicht weit entfernt, in der Rue Darcet Nummer 17, befand sich ein Bistro, geführt von Petiots Patienten und Freunden Louis Albert und Emilie-Justine Bézayrie. Dort vernahm Inspektor Battut eine Person, die den Verdächtigen in der Nacht der Entdeckung des Beinhauses gesehen haben könnte. Maria Vic, die neue Geschäftsführerin, erzählte von einem Mann, der um ungefähr 21.15 Uhr im Bistro aufgetaucht sei und darum gebeten habe, das Telefon zu benutzen. Als sie zustimmte, erklärte er ihr, dass es sich um ein Ferngespräch in die Region von Yonne handle. Sie war sich allerdings nicht sicher, wen er anrief und was die beiden
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