Der Serienmörder von Paris (German Edition)
zuerst gezögert habe. Er sei doch in der Tiefe seines Herzens ein patriotischer Franzose. Massu konnte das nicht überzeugen, und so schnitt er wieder das Thema der Organisation an. Fourrier gab offen zu, Petiot bei der Hilfe von Fluchtwilligen unterstützt zu haben. Für den Zweck sicherte er sich die Hilfe des alten Freundes Edmond Pintard, der wesentlich mehr Kontakte zur Pariser Halbwelt hatte.
Fourrier berichtete Massu über den potenziellen Kunden Charles Beretta, eine sichere Wahl, da man ihn schon aus einer Gestapo-Akte kannte. Seitdem die Deutschen Petiot im Januar 1944 frei gelassen hätten, so Fourrier, habe er diesen zwei Mal von einer Flucht zu überzeugen versucht. Als er jedoch ablehnte, wurde Petiot wütend und schob Fourrier die Schuld für die Verhaftung in die Schuhe, denn der hatte schließlich Beretta empfohlen.
Nach einer kurzen Verhörpause befragte Massu den Friseur nach weiteren Personen, die er Petiot empfohlen habe. Einen der ersten Kunden kannte man in der Unterwelt als „Jo, der Boxer“, „Jo, der stählerne Arm“, „Jo, la Ric“ oder einfach „Jo Jo“. Fourrier nannte den gutaussehenden Mann in seinen Dreißigern mit dunklem Haar, einer gebrochenen Nase und deutlich sichtbaren Narben unter dem Kinn „Monsieur Jo“. Der kleidete sich oft in einen todschicken Anzug und trug weit geschnittene, hochgezogene Hosen mit Aufschlag, Hosenträger und einen locker fallenden Mantel mit Kragenaufschlag und gepolsterten Schultern. Er war von Pintard in einer kleinen Bar an der Rue l’Echiquier angesprochen worden, die im für Prostitution berüchtigten Bezirk entlang der Rue Faubourg Saint-Denis lag.
Fourrier identifizierte den Mann kurz darauf anhand einiger Polizeifotos. Sein bürgerlicher Name lautete Joseph Réocreux, und er war, wie Massu es darstellte, auf keinen Fall „ein Chorknabe“. „Jo, der Boxer“ konnte sich eines langen Strafregisters rühmen, das von Diebstahl bis Zuhälterei reichte und ihm einige Gefängnisaufenthalte einbrachte – von Lyon bis Saint-Julien-en-Genevois im Département Haute-Savoie an der Schweizer Grenze. Vier oder fünf Haftbefehle waren auf ihn ausgestellt, doch es gab einen weitaus dringlicheren Grund für ihn, Frankreich zu verlassen.
„Jo, der Boxer“ hatte sich mit dem Anführer der brutalsten und berüchtigtsten Verbrecherbande des besetzten Paris überworfen: Henri Lafont (bürgerlicher Name Henri Chamberlin), den man auch „Henri Normand“, „Monsieur Henri“ oder schlicht „Boss“ nannte. Der 42-jährige Gauner führte eine Gruppe an, die man landläufig als „La Carlingue“ oder „die französische Gestapo“ bezeichnete. Der offizielle Name [den die Deutschen ihr gaben, A. T.] lautete „Aktivgruppe Hesse“, nach einem deutschen SS-Offizier unter Helmut Knochen [Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich, A. T.], der sich um ihre Gründung gekümmert hatte. Lafonts Männer waren nicht nur für die „üblichen“ Machenschaften verantwortlich, führten Bars, Restaurants und Nachtclubs, sondern nahmen auch „Feinde des Dritten Reichs“ gefangen, beraubten oder folterten sie oder erpressten Lösegelder. Für ihre „Verdienste“ wurden sie meist von den deutschen Behörden belohnt. Lafont fuhr in einem weißen Bentley durch Paris, natürlich stets das neueste Modell, und fast immer in Begleitung einer Geliebten. Anscheinend schien er stets Damen aus der Aristokratie oder Tänzerinnen zu bevorzugen.
Von seinem palastähnlichen Büro im zweiten Stock der Rue Lauriston 93 aus, dem Dahlien und seltene Orchideen (die er wie ein Besessener sammelte) einen zauberhaften Reiz verliehen, herrschte er über ein brutales und zunehmend profitables Imperium des Verbrechens. Er hatte sich ein ausgedehntes Netzwerk von Agenten und Informanten aufgebaut, die ihn über alle Entwicklungen auf dem Laufenden hielten. Lafont bestand auf bedingungsloser Ordnung und Disziplin und verlangte von den Männern absolute Loyalität, was bedeutete, dass sie ihm permanent – wie es ein ehemaliges Mitglied beschrieb – „Diskretion, Effizienz, Teamgeist und uneingeschränkten Gehorsam“ beweisen mussten. „Jo, der Boxer“ brach das ungeschriebene Gesetz. Er hatte sich eine Gestapo-Uniform angezogen und auf eigene Rechnung eine Serie von Diebstählen begangen, durch die er sowohl das Dritte Reich als auch seine Organisation betrog, obwohl die Bestrafung im Kellergewölbe von Lafonts grauem Haus, gebaut aus massivem Stein, in der
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