Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Flüchtigen zwischen 1943 und 1944 dramatisch erhöhte und sogar gesetzestreue Bürger durch das als willkürlich und ungerecht empfundene Gesetz in Notsituationen gerieten, drohten die Deutschen noch härtere Bestrafungen für die Flucht an: „Alle nahestehenden Verwandten, Schwäger und Cousins im Alter von über 18 Jahren werden unverzüglich erschossen. Frauen in ähnlichen Verwandtschaftsverhältnissen werden zu schwerer Arbeit verurteilt.“ Kinder unter 17 Jahren wurden ihren Familien entrissen und in „bewährte Schulen“ gesteckt. Eine immer größere Zahl von Franzosen erkannte die Brutalität und die Ausbeutung, die der deutschen Besatzung zugrunde lagen.
Während Petiot hinter Schloss und Riegel saß, hatte sich die Taktik der Résistance modifiziert und beschränkte sich nun nicht mehr nur auf individuelle Angriffe und Sabotageakte. Der Sozialist Jean Texcier brachte es auf einen Nenner und beschrieb die Vorgehensweise zutiefst ironisch als „eine nette Beschäftigung für die Besatzer“. Flugblätter und Pamphlete der Résistance riefen zum offenen Widerstand in ganz Paris auf. Albert Camus, welcher der Redaktion von Combat im Herbst 1943 beitrat, schrieb nur wenige Tage nach der Entdeckung von Petiots Straftaten im März 1944 folgende Zeilen: „Der totale Krieg wurde entfesselt und provoziert den totalen Widerstand. Du musst dich zur Wehr setzen, denn es betrifft auch dich. Es gibt nur ein Frankreich, nicht zwei.“ Sympathisanten der Besatzer – so warnte er – würden schon bald genauso hart von den Franzosen bestraft wie aktive Kämpfer der Résistance von den Deutschen. Die Zeit zum Handeln war gekommen.
Als sich die Nachricht von Petiots „Mörderhaus“ verbreitete, steckte Albert Camus in den Proben zu seinem ersten Stück mit dem Titel Das Missverständnis . Die Handlung drehte sich um Hotelbesitzer, die Gäste anwarben, dann unterhielten und später beraubten und töteten. Es war ein „petioteskes“ Drama, das im Juni uraufgeführt werden sollte, und zwar im Théâtre des Mathurins, das gegenüber von Fourriers Friseursalon lag.
Die Inspiration zu dem Stück lag jedoch neun Jahre zurück, als Camus den kurzen Artikel einer Nachrichtenagentur von einem jungen Mann gelesen hatte, der nach Jugoslawien zurückgekehrt war, wo ihn die eigene Mutter umbrachte. Camus schmückte die Geschichte mit zwei Elementen aus. Erstens: Der Mann kam verkleidet zurück. Zweitens: Die Familie hatte das Hotel während seiner Abwesenheit in ein profitables „Schlachthaus“ verwandelt. Camus entschied sich für einen Handlungsort in der entfernten böhmischen Stadt Budweis im heutigen Tschechien, den er vor acht Jahren besucht hatte. Seine Geliebte Maria Casarès spielte in dem Stück die Schwester.
Camus hatte sich im Laufe der Jahre mit dem neuen Leben in Paris arrangiert. Zuerst empfand er die besetzte Stadt, die Tauben und die Denkmäler als ein einziges die Sinne vereinnahmendes Grau und als einen starken Gegensatz zur Sonne, dem Meer und dem Schimmern seiner Heimat Algerien. Er vermisste sein Lieblingscafé, ein mit einer Guillotine und einem Skelett verziertes Etablissement mit einem skurrilen Geschäftsführer, der mit einem Dildo in der Hand durch die Stuhlreihen stolzierte. Auch vermisste er seine Frau Francine, was ihn aber nicht von Affären abhielt.
Zeitweise zog Camus es in Erwägung, sich über die Fluchthilfeorganisation nach Spanien und später nach Algerien abzusetzen, denn diese Art von „Reisen“ lag in seinem Erfahrungsbereich. Bevor er nach Frankreich kam, hatte Camus Männern und Frauen, die hofften, sich de Gaulle in London anzuschließen, zur Flucht nach Marokko verholfen. Jedoch gab er das Gedankenspiel schnell auf, egal, wie negativ die Besatzung sein intellektuelles Schaffen beeinflusste – Henri Jeanson verglich die damalige Situation mit dem Leben eines Insassen in einer „Irrenanstalt, die von Wahnsinnigen geleitet wird“. Stattdessen konzentrierte sich Camus auf die Arbeit. Im Frühjahr 1944 schrieb er nächtelang an dem neuen Roman Die Pest , der in einer von Ratten geplagten Stadt spielte.
Während Camus am Feinschliff des Theaterstücks über die mordenden Hotelbesitzer arbeitete, bereitete sich Sartre auf die Premiere von Geschlossene Gesellschaft vor, einem Einakter, den man am 27. März 1944 im Théâtre du Vieux-Colombier uraufführte. Der Handlungsort – eine deutliche Anspielung auf die Besatzung – war die Hölle. Sartre wählte zuerst Camus für die
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