Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Gefängnisaufenthalt nach sich gezogen hätte? Das ist durchaus möglich, denn Petiot liebte das Spiel mit der Gefahr, wie Massu schon bald erfahren sollte. Auf jeden Fall hatte Petiot ein überaus gesteigertes Selbstbewusstsein hinsichtlich seiner Fähigkeit, einer Bestrafung zu entgehen, sei es mit oder ohne Hilfe.
Dass Madame Mallard Denise zu Petiot schickte, liegt im Bereich des Vorstellbaren. Auch wenn sich Hebammen in den frühen Vierzigern mit solchen „Überweisungen“ zurückhielten, geschah das dennoch, falls eine Abtreibung misslang oder Komplikationen das Leben der Patientin gefährdeten. Vielleicht hatte der Arzt sie gesehen und eine Operation versucht, die fehlschlug oder die eine lebensbedrohliche Infektion aufgrund der mangelnden Hygiene nach sich zog, was bei illegalen Abtreibungen oft vorkam. Damit diese damals als schwer eingestufte Straftat nicht aufflog, versuchte Petiot möglicherweise, die Spur des misslungenen Eingriffs zu verwischen. Doch das ist eine reine Hypothese, die nicht mit Fakten untermauert werden kann.
In diesem Fall steckte die Polizei in einer Sackgasse. Jean Hotins Angaben über den Besuch Mallards – und die Geschichte der Vermittlung – konnten nicht überprüft werden, denn die Hebamme war im April 1944 eines natürlichen Todes gestorben. Auch ihre Tochter Gilberte Mouron lieferte keine näheren Hinweise, glaubte jedoch, den Namen Petiot schon einmal gehört zu haben. Darüber hinaus stimmten die von Jean Hotin angegebenen Sprechstundenzeiten nicht mit den tatsächlichen überein. Die Ermittler fanden indes nicht den geringsten Hinweis, der das Verschwinden von Denise mit Dr. Petiot in Zusammenhang brachte oder ihren Tod bestätigte. Dennoch fügte man den Namen der jungen Frau der Liste der Opfer des Arztes hinzu.
WENN SIE JETZT FRAGEN ÜBER JEDEN ERDENKLICHEN TOTEN STELLEN WOLLEN, WERDEN SIE EIN SEHR BESCHÄFTIGTER MANN SEIN.
(Marcel Petiot im Gespräch mit Dr. Albert Paul)
N ach dem Fund von Paulette Grippays schwarzem Seidenkleid gelang es Massu, eine weitere Verbindung zwischen den Zeugenaussagen und dem Inhalt der Koffer herzustellen, die in der Rue Le Sueur und auf Neuhausens Dachboden gefunden worden waren. Es handelte sich hierbei um die Seidenhemden des Modeschöpfers Sulka mit den eingestickten Initialen „A. E.“, die man Adrien „dem Basken“ Estébétéguy zuordnete. Das wurde von einem großen, kräftigen Mann bestätigt, der mit seinem neuen Bentley vor dem Dienstgebäude am Quai des Orfèvres vorfuhr – Henri Lafont.
Ohne Zweifel zählte Lafont zu den mächtigsten Männern des besetzten Paris, eine nicht vorhersehbare Position für einen Trickdieb, der weder lesen noch schreiben konnte. Seine Mutter hatte ihn unmittelbar nach dem Tod des Vaters verlassen. Der damals 13-jährige Lafont musste sich seinen Lebensunterhalt auf der Straße verdienen, stahl Café-Stühle, um sie weiterzuverkaufen, stellte ungedeckte Schecks aus und wurde in verschiedenste Besserungsanstalten und Jugendgefängnisse gesteckt, aus denen er sich nach kürzester Zeit verdrückte. Seine erste Haftstrafe trat er am 15. Mai 1919 wegen Diebstahls an. Bis 1934 folgten wegen ähnlicher Vergehen zehn weitere „Visiten“ im Knast, was insgesamt eine Zeit von acht Jahren Gefängnis ergab.
Bis 1934 hatte sich Lafont mit einer Reihe unterschiedlichster Arbeiten über Wasser gehalten – als Laufbursche, Dockarbeiter, Mechaniker, Autoverkäufer und Chauffeur. Er verpflichtete sich dann für zwei Jahre beim 39. Régiment des Tirailleurs Algériens. Nach der Beendigung des Militärdienstes gelang es ihm – unglaublich, aber wahr –, unter dem Pseudonym „Henri Normand“ eine Kantine der Polizeipräfektur zu leiten. Dort bot sich ihm die Chance, viele Polizisten kennenzulernen und Freundschaften mit ihnen zu schließen. Als sich 1939 der Krieg abzeichnete, versuchte Lafont wieder zur Armee zurückzukehren. Aufgrund seines Strafregisters wurde er jedoch nicht rekrutiert. Seine vielfältigen Erfahrungen, sowohl während seines Lebens auf der Straße als auch der Zeit im Gefängnis, zahlten sich aber während der Besatzungszeit dennoch aus.
Im Strafvollzug hatte Lafont einen Mann kennengelernt, der ihn den deutschen Behörden vorstellte: Max Stocklin, einen großen, kultivierten Schweizer, den man in den späten Dreißigern dann wegen seiner Informantentätigkeit für die Abwehr ins Gefängnis warf. Als die Deutschen 1940 Paris erreichten, übertrug man Lafont die Leitung einer
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