Der Sichelmoerder von Zons
Woche wirst du sicher schon wieder Mehlsäcke schleppen!“
Bastian versuchte zu scherzen, doch das graue Gesicht und die stumpfen, ausgemergelten Augen seines Bruders ließen seinen Magen zu einem Knoten zusammenkrampfen, von dem aus sich eine unendlich große Angst in seinem ganzen Körper verbreitete. Das Lächeln, welches er eigentlich aufsetzen wollte, gefror in seinem Gesicht und stattdessen verzogen sich Bastians Lippen zu einem schmalen Strich. Er klopfte Heinrich zum Abschied sachte auf die Schulter und verließ die kleine Stube, in welcher das Bett seines großen Bruders stand.
Bastian blickte in den Himmel, die Sonne begann bereits zu steigen. Er musste sich beeilen, wenn er Pfarrer Johannes noch vor seinem nächsten Gottesdienst sprechen wollte. Schnell lief er die kleinen Gässchen entlang. In knapp einer Stunde würde der Gottesdienst beginnen und Bastian wollte ihm die silberne Kette mit dem Schlüssel daran zeigen, den er zusammen mit dem Arzt Josef Hesemann aus dem Leichnam von Benedict Eschenbach gezogen hatte. Auf dem Weg musste er wieder an seinen Bruder Heinrich denken. Eigenartig, dass er im Antlitz seiner Krankheit ans Sterben dachte. Heinrich hatte sich nie besonders für die Religion interessiert und immer auf seine Muskelkraft vertraut. Dass er jetzt ausgerechnet auf dem Friedhof des Klosters von Knechtsteden begraben werden wollte, empfand Bastian als befremdlich. Er versuchte, sich vorzustellen was er in einer solchen Situation tun würde. Würde auch er sich an einem fremden Ort begraben lassen wollen? Nein! Sein Platz war bei seiner Frau Marie. Bastian fragte sich, warum sich plötzlich so viele Bürger von Zons wieder vielmehr mit Religion und mit Gott beschäftigten. Begonnen hatte alles mit dem Tod des alten Brudermeisters Henricus Krumbein. Seit Huppertz Helpenstein die Führung der St. Sebastianus-Schützenbruderschaft übernommen hatte, stand bei den Brüdern die Kampfeskunst nicht mehr im Vordergrund der Treffen, sondern ausschließlich ihre Gottesfürchtigkeit.
Bastian versuchte, das Bild seines mittleren Bruders Albrecht heraufzubeschwören. Dieser war schon mit jungen Jahren in das Kloster Knechtsteden eingetreten. Als Junge war Albrecht immer kränklich gewesen und Heinrich hatte den kleinen Albrecht wie seinen Augapfel gehütet. Bastian hatte sich oft gewünscht, genauso viel von Heinrich beachtet zu werden, wie der zierliche Albrecht. Da sein Vater nicht die Mittel besaß, um alle seine sechs Söhne standesgemäß zu versorgen, gab man den kleinen Albrecht im zarten Alter von acht Jahren ins Kloster. Bastian konnte sich, obwohl er selbst erst fünf Jahre alt war, noch gut daran erinnern, wie sehr sein Bruder Heinrich unter der Trennung gelitten hatte. Zwar war das Kloster Knechtsteden nicht besonders weit entfernt von Zons, jedoch hatten die Mönche dort strenge Regeln und untersagten ihren Schützlingen den Kontakt zur Außenwelt weitestgehend.
...
Kloster Knechtsteden 18 Jahre zuvor
Knechtsteden 1478: Der kleine Junge blickte furchtsam zu den großen Männern in ihren beeindruckenden Kutten auf. Der Stoff bestand aus Schurwolle und wallte im Wind. Sie gingen zügigen Schrittes hinüber in die Kapelle und blieben vor dem geschmückten Altar stehen. Im Chor begannen sie, ein Lied zu singen. Ein Lied, dessen Melodie das Herz des Jungen auf wundersame Art und Weise zu umschmeicheln begann. Nie wieder würde diese Melodie aus dem Gedächtnis des Jungen verschwinden. Immer würde er diesen Gesang in seinem Innersten heraufbeschwören können. Plötzlich fühlte sich der kleine Junge nicht mehr fremd und ängstlich. Er wusste, dass er von nun an zu den Männern gehörte, die vor ihm diese wunderbare Melodie entfachten und den Klang ihrer Stimmen wie ein Wunderwerk Gottes durch diese eigentlich kalten Hallen klingen ließen.
Die beiden kleinen Jungen neben ihm schienen dasselbe zu spüren wie er. Auch ihre Augen leuchteten und die Wangen auf der blassen Jungenhaut schienen rosig. Das musste Gott sein, der sie hierher geführt hatte!
Kloster Knechtsteden 6 Jahre zuvor
Knechtsteden 1490: Zwölf Jahre später wusste Albrecht, dass die heilige Kapelle, in der er zum ersten Mal diese wundervolle Melodie gehört hatte, nicht für alle ein heiliger Ort war. Seit ein paar Wochen wusste er nun, was Hass war. Tiefer Hass, der die Seele auffraß. Albrecht, Huppertz und Conrad hatten ein gemeinsames Feindbild entwickelt. Seit sie als kleine,
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