Der Sichelmoerder von Zons
von vorhin?“ Sie ließ sich neben Anna auf den Boden fallen. Anna betrachtete die tote Hand, die nun direkt vor ihren Augen schwebte. Nein, dachte sie, dieser Knochen sieht aus wie der einer Mumie.
„Riechst du etwas, Emily?“, flüsterte Anna leise.
„Nein, wieso?“, erwiderte Emily fragend.
„Wenn es nicht nach Verwesung stinkt, dann muss es eine alte Leiche sein. An dem Knochen sind nicht mal mehr Gewebereste dran. Sieht uralt aus, wenn du mich fragst.“
Emily betrachtete den Handknochen und atmete tief ein. Ihre Nasenflügel blähten sich auf. Tatsächlich. Er roch überhaupt nicht nach Verwesung. Die Altersspuren waren nicht zu übersehen. Einige Fingerknochen waren völlig porös. Emily nahm ihren Mut zusammen und begann den Leichnam Stück für Stück von den Steinen zu befreien. Anna half ihr dabei. Als das Skelett fast frei lag, betrachteten sie es genauer. Der Brustkorb war unter der Last der Steine zusammengedrückt und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem eines Menschen. Emily leuchtete mit der Taschenlampe direkt auf die Knochen. Ein goldener Gegenstand blitzte plötzlich auf. Mit ihren Fingern griff Emily danach und zog schließlich eine alte goldene Kette aus den Knochen hervor. Am Ende der Kette hing ein Amulett mit einer goldenen Mühle darauf. Emily holte tief Luft und traute ihren Augen nicht.
„Anna“, flüsterte sie aufgeregt, „ich glaube wir haben gerade Bastians Bruder, Heinrich Mühlenberg, gefunden!“
XIX
Vor fünfhundert Jahren
Bastian hatte Stunden damit verbracht, die Leiche seines Bruders Heinrich zu finden. Doch seine Suche blieb erfolglos. Völlig erschöpft gab er auf und ließ sich müde auf den harten Boden fallen. Seine Fackel war fast völlig heruntergebrannt. Ihr Feuerschein warf ein warmes Licht an die Wände des Labyrinths. Mit einem verzweifelten Seufzer lehnte Bastian sich mit dem Rücken gegen die kalte, feuchte Wand und griff sich an die Brust. Er zog sein Amulett hervor und betrachtete es. Eine goldene Mühle hob sich leuchtend vom silbernen Hintergrund ab. Jeder der sechs Brüder hatte zur Geburt vom Vater ein Amulett bekommen. Sie ähnelten sich fast vollständig. Jemandem, der nur einen flüchtigen Blick darauf warf, wäre nie aufgefallen, dass der Stand der Mühlenflügel nicht gleich war. Mit jedem neugeborenen Sohn ließ der alte Zonser Müller die Flügel um 30 Grad weiter nach rechts drehen. Während die Flügel auf Bastians Amulett wie ein Kreuz aussahen, weil sie genau senkrecht übereinander standen, waren sie auf Heinrichs Amulett versetzt. Bastian ließ das Amulett wieder unter sein Wams fallen und holte aus seiner linken Hosentasche die kleine goldene Marienfigur hervor. Er hatte die kostbare Figur auf der Suche nach Heinrich an der markierten Stelle unter dem Juddeturm gefunden. Sie lag genau dort, wo sie laut der Karte liegen musste. Die Marienfigur war mit zahlreichen wertvollen Edelsteinen besetzt, die im Schein der Fackel hell glitzerten. Bastian drehte sie herum, konnte jedoch nirgendwo eine Öffnung entdecken. Ob in dieser Hülle wirklich ein Heilpulver vom Erzbischof von Saarwerden steckte? Entmutigt ließ er die Figur wieder in seiner Tasche verschwinden. Jetzt würde ihm das Pulver auch nichts mehr nützen. Selbst wenn er sich nicht an die Worte von Pfarrer Johannes halten würde, könnte er Heinrichs Lungenleiden mit dem Pulver nicht mehr heilen. Heinrich war tot! Er schüttelte den Kopf und hörte erneut den verzweifelten Schrei seines Bruders in seinem Inneren erklingen. Die Wut stieg wie giftige Galle in ihm hoch. Verdammt. Bruder Ignatius, dieser Teufel, sollte ihm auf der Stelle verraten, wo sein Bruder war. Er sprang auf und lief hastig zu dem Holzstuhl, auf dem Ignatius immer noch ohnmächtig und gefesselt saß. Unsanft schüttelte Bastian den Mörder, doch dieser blieb bewusstlos.
„Ich werde dich in den Juddeturm bringen und dann wirst du reden!“
XX
Gegenwart
„Woher willst du wissen, dass es Bastian Mühlenbergs Bruder ist?“, fragte Anna leise. Der Anblick des Gerippes schnürte ihr immer noch die Kehle zu.
„Er hat das Mühlenamulett um seinen Hals. Oder das, was davon übrig ist“, mit diesen Worten berührte Emily andächtig die kleine goldene Mühle, die sich leicht vom silbernen Hintergrund abhob. „Wir müssen seine Knochen hier unten rausholen und auf dem Friedhof im Kloster Knechtsteden begraben!“
„Bist du verrückt. Ich fasse diese Knochen nicht an.“
„Bastian
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