Der siebente Sohn
daß er tatsächlich vorhatte, die Nacht hier zu verbringen. Diese halbfertige Kirche war sein Zuhause wie kein anderer Ort auf Erden. Der harzige Geruch erweckte in ihm das Verlangen, Hymnen zu singen, die er noch niemals gehört hatte, und so saß er summend da, die Seiten des Alten Testaments umblätternd, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß das Papier mit Worten bedruckt war.
Er hörte sie erst, als sie den Holzboden betraten. Dann hob er den Blick und sah zu seiner Überraschung Mistress Faith, gefolgt von den achtzehnjährigen Zwillingen Wastenot und Wantnot. Die beiden Jungen trugen eine große Holzkiste. Es dauerte einen Augenblick, bevor er begriff, daß die Kiste einen Altar darstellen sollte. Es war ein recht schöner Altar, wunderschön gebeizt, das Holz war so eng verfugt, daß jeder Schrankmacher stolz darauf gewesen wäre. Und in die Bretter, die den oberen Teil des Altars umgaben, waren zwei Kreuzreihen eingebrannt.
»Wo wollt Ihr ihn hinhaben?« fragte Wastenot.
»Vater hat gesagt, wir sollen ihn heute abend herbringen, jetzt, da die Wände und das Dach fertig sind.«
»Vater?« fragte Thrower.
»Er hat ihn ausdrücklich für Euch angefertigt«, sagte Wastenot. »Und der kleine Al hat die Kreuze selbst eingebrannt, weil er hier ja nicht mehr weiter arbeiten durfte.«
Inzwischen stand Thrower bei ihnen und konnte genauer feststellen, daß der Altar liebevoll angefertigt worden war. So ein Werk hätte er von Alvin Miller am wenigsten erwartet. Und die vollkommen gleichmäßigen Kreuze sahen überhaupt nicht wie die Arbeit eines sechsjährigen Kindes aus.
»Hierhin«, sagte er und führte sie an die Stelle, wo er sich den Altar vorgestellt hatte. Auf dem hellen Holzboden wirkte der dunkel gebeizte Altar so vollkommen, daß Thrower die Tränen in die Augen traten. »Sagt ihnen, daß er wunderschön ist.«
Faith und die Jungen lächelten so breit, wie sie nur konnten. »Ihr seht also, daß er nicht Euer Feind ist«, sagte Faith, und Thrower konnte nur zustimmend nicken.
»Ich bin auch nicht sein Feind«, entgegnete er. Und er sagte nicht: Ich werde ihn mit Liebe und Geduld besiegen, aber ich werde siegen, und dieser Altar ist ein sicheres Zeichen dafür, daß er sich im tiefsten Inneren seines Herzens heimlich danach sehnt, daß ich ihn von der Finsternis der Unwissenheit erlöse.
Sie hielten sich nicht lange auf, sondern schritten schnell durch die Nacht wieder zurück nach Hause. Thrower stellte seine Kerze auf den Boden neben den Altar – niemals darauf, da das nach Papismus aussehen würde – und kniete zu einem Danksagungsgebet nieder. Die Kirche war weitgehend fertig, und schon stand ein wunderschöner Altar darin, erbaut von dem Mann, den er am meisten gefürchtet hatte, die Kreuze eingebrannt von dem seltsamen Kind, das den zwanghaften Aberglauben dieser unwissenden Menschen am stärksten symbolisierte.
»Du bist so voller Stolz«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Er drehte sich um, lächelte bereits, denn er war immer froh, wenn der Besucher erschien. Aber der Besucher lächelte nicht. »So voller Stolz.«
»Verzeiht mir«, sagte Thrower. »Ich bereue es bereits. Und dennoch – kann ich denn etwas gegen meine Freude ausrichten angesichts dessen, welch großes Werk hier begonnen wurde?«
Der Besucher berührte sanft den Altar, seine Finger suchten die Kreuze. »Das hat er gemacht, nicht wahr?«
»Alvin Miller.«
»Und der Junge?«
»Die Kreuze. Ich hatte schon so sehr befürchtet, daß sie Diener des Teufels sein könnten…«
Der Besucher musterte ihn scharf. »Und weil sie nun einen Altar gebaut haben, meinst du, das würde das Gegenteil beweisen?«
Ein Schauer der Furcht durchlief ihn, und Thrower flüsterte: »Ich glaubte nicht, daß der Teufel das Zeichen des Kreuzes benutzen könnte…«
»Du bist eben so abergläubisch wie alle anderen«, erwiderte der Besucher kühl. »Die Papisten bekreuzigen sich die ganze Zeit. Glaubst du, das wäre ein Zauber gegen den Teufel?«
»Wie soll ich dann überhaupt irgend etwas wissen können?« fragte Thrower. »Wenn der Teufel einen Altar herstellen und ein Kreuz ziehen kann…«
»Nein, Thrower, mein lieber Sohn, es sind keine Teufel, weder der eine noch der andere. Du wirst den Teufel schon erkennen, wenn du ihn siehst. Wo andere Menschen Haare auf dem Kopf haben, hat der Teufel die Hörner eines Stiers. Wo andere Menschen Füße haben, besitzt der Teufel die gespaltenen Hufe eines Ziegenbocks. Wo andere Menschen Hände besitzen, hat
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